Job und Familie: Warum wir uns vom Perfektionismus verabschieden müssen
Katharina Looks
Mit den Gedanken noch auf der Arbeit, obwohl Familienzeit ist? Nicht nur äußere Ansprüche, auch der eigene Perfektionismus belastet Mütter und Väter
Liebevolle Partnerschaft, steile Karriere, Zeit für Hobbies UND glückliche Kinder. Dass das nicht gleichzeitig funktioniert, liegt auf der Hand. Eltern erzählen von ihren Gewissensbissen und wie sie ihnen entkommen sind.
- Susanne Garsoffky: Zweifache Mutter, Journalistin und Autorin von „Die alles ist möglich-Lüge“
- Wolfgang Lünenbürger-Reidenbach: Vierfacher Papa, Managing Director bei Cohn & Wolfe Public Relations und Blogger (haltungsturnen.de)
- Patricia Cammarata: Zweifache Mama + “Patchwork-Kind”, IT-Projektleiterin und Bloggerin (dasnuf.de)
- Mathias Voelchert: Vater von zwei erwachsenen Kindern und Gründer sowie Leiter von familylab.de
Endstation schlechtes Gewissen?
Susanne Garsoffky:
Wir hatten beide ein schlechtes Gewissen, als wir noch so gearbeitet haben, wie wir es bis vor drei Jahren taten: Wir sind Journalisten, mein Mann war und ist immer noch selbständig, hat eine Firma aufgebaut und war viel unterwegs. Ich hatte eine 85-Prozent-Stelle beim WDR und leider nicht dort gelebt, wo ich gearbeitet habe. Zur Arbeit kam also die Fahrzeit dazu, plus Überstunden. Das heißt, wir waren beide viel weg, haben das für unsere Kinder aber immer gut organisiert: Wir hatten eine Kita, eine Kinderfrau und, wenn alles schief lief, noch Oma und Opa. (…) Wir hatten wenig Zeit zu zweit und haben uns dann nach Kräften bemüht, das zu ändern – und auch geschafft. Denn mit diesem Gefühl, dass vieles einfach immer zu kurz kommt, wollten wir nach fast neun Jahren Beziehung nicht mehr leben.
Wolfgang Lünenbürger-Reidenbach:
Ich hatte sehr lange den Eindruck, den vielen Rollen, die ich habe, nicht gerecht werden zu können. Und das heißt vor allem: Beruf, Kinder und Partnerschaft. Wenn ich das Bedürfnis habe, abends nach Hause zu gehen, um meine Kinder zu sehen, dann habe ich womöglich den Eindruck, dass ich denjenigen, der noch im Büro sitzt, im Stich lasse. Wenn ich erst sehr spät nach Hause komme, lasse ich die Kinder, ja auch die Frau im Stich, die deutlich weniger arbeitet als ich.
Dieses Hin- und Hergerissen-Sein zwischen den Rollen, das hat den größten Anteil meines schlechten Gewissens ausgemacht. Und zu lernen, mit dieser Unvollständigkeit zu leben, in jeder dieser Rollen und so eine Art „Mut zur Lücke“ zu entwickeln, ist vielleicht auch eine Form vom „Erwachsenwerden“ in der Familiensituation. Das war tatsächlich das allerschwerste in den ersten Jahren.
Patricia Cammarata:
Ich muss dazu sagen, dass ich mich in einer sehr privilegierten Situation befinde, weil bei mir alles denkbar optimal ist. So hält sich mein schlechtes Gewissen relativ in Grenzen. Als die Kinder noch im Babyalter waren, da hatte ich auch eher das Gefühl, dass ich sehr stark verantwortlich bin. Mit der Weile wurde es einfacher.
Lustige Anekdote dazu: Wir haben einen total schönen Kindergarten und ich hetzte oft von der Arbeit los, um die Kinder rechtzeitig abzuholen. Da kommt oft nur sowas wie: „Ähh, du holst mich schon wieder ab!“ Das erleichtert mich natürlich, da das Kind gut betreut wird und sich wohl fühlt. Ich habe auch einen extrem familienfreundlichen Arbeitgeber.
Wenn die Bedingungen stimmen, hält sich das schlechte Gewissen in Grenzen. Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren hat also geklappt, die Partnerschaft zu halten jedoch nicht. Das hat aber auch dazu geführt, dass wir jetzt viel genauere Absprachen haben, die die anderen beiden Felder wieder sehr entlasten.
Der Druck wird stärker – nicht nur äußere Faktoren sind schuld
2. Wo liegen die Ursachen für dieses schlechte Gewissen beim Spagat zwischen Job und Familie?
Mathias Voelchert:
Ich glaube, dass das schlechte Gewissen, das viele Eltern haben, ein ganz deutliches Zeichen für Verantwortung ist. Eltern kümmern sich heute wesentlich mehr um ihre Kinder. In meiner Generation, aber auch in der meiner Eltern, sind Kinder eher mitgelaufen. Eltern haben sich nicht so bemüht wie heute. Kinder die sind einfach passiert.
Ich denke, heute ist der Anspruch, den die Eltern an sich stellen, sehr groß: Sie wollen eine schöne Partnerschaft haben, erfolgreich im Beruf sein, glückliche Kinder haben … Das belastet sehr. Deshalb halten sie daran fest, dass es einfach keine Probleme gibt. Das ist keine gute Idee. (…) Eltern würden sich leichter tun, wenn sie sich mehr entspannen und Fünfe gerade sein lassen. Und wenn sie auch den Kindern elternfreie Zeit zumuten und diese dann für sich nutzen. (…) Eltern sollten nicht in den Perfektionswahn kommen.
Susanne Garsoffky:
Ich bin eine große Gegnerin davon, Eltern den schwarzen Peter zuzuschieben. Ich denke auch nicht, dass es daran liegt, dass Eltern tatsächlich dem Perfektionswahn verfallen sind. Die Anforderungen an die Eltern sind gewachsen. Mütter und Väter kommen heute früh wieder zurück auf den Arbeitsmarkt und wir haben Arbeitgeber, die das als selbstverständlich sehen, möglichst schnell wieder vollzeitnah zu arbeiten. Es gibt einen Arbeitsmarkt, der alles andere als familienfreundlich ist.
Deshalb ist unsere heutige Situation schwer mit den Vorgängern zu vergleichen, da die Rollenaufteilung eine ganz andere war. Es war damals viel selbstverständlicher, sich drei Jahre Elternzeit zu nehmen. Heute würde sich das kein Mensch mehr wirklich trauen. Und ich glaube auch, dass Kinder heute nichts Selbstverständliches mehr sind. Die niedrigen Geburtenraten haben sicher dazu geführt, dass die Eltern und auch die Gesellschaft stärker auf Kinder schauen, alles skeptischer betrachten.
Zudem hat sich die Schulsituation durch G8 extrem verändert. Ich glaube, dass viele Eltern tatsächlich unter dem Druck stehen oder Angst haben, dass sie ihre Kinder durch eine erfolgreiche Schullaufbahn führen und ihnen genug Chancen ermöglichen müssen, auf einem Arbeitsmarkt, der doch relativ hart und stark konkurrenzgeprägt ist. Es ist immer leicht zu sagen, es liegt an unserem eigenen Perfektionismus. Das greift zu kurz. Ich denke, dass alles ein wenig gnadenloser geworden ist.
Wolfgang Lünenbürger-Reidenbach:
Interessant, denn ich erlebe das anders. Allerdings muss man dazu sagen, dass ich in einer sehr privilegierten Situation stecke. Bei der oberen Mittelschicht-Familie, da sind drei Kinder oder mehr normal. Wir haben erlebt, dass es einfacher wurde, je mehr Kinder wir hatten. Das ist erst mal ein Paradox, doch es wurde leichter, auch mal Fünf gerade sein zu lassen und Akzeptanz im Umfeld dafür zu finden. Wenn ich vier Kinder habe, ist es logisch, dass ich nicht bei jedem Kind zu jedem Klassenfest 25 Kuchen backe und nicht zehn Stunden basteln kann. Abgesehen davon, dass das ohnehin abgenommen hat: Als unser Großer anfing mit Schule, da war es noch relativ normal, dass in der Regel die Frau, im meinem Umfeld auch Männer, eine längere Elternzeit genommen haben. Bei unserer jüngsten Tochter erleben wir, dass es nahezu überhaupt keine Familien mehr gibt, wo ein Elternteil ganz zu Hause ist und nur “unbezahlte” Arbeit macht.
Dass so viele Leute wenige Kinder haben wollen, hängt schon mit den eigenen Ansprüchen zusammen und der Vorstellung, man könnte denen nicht so richtig gerecht werden. (…) Uns ist immer wichtig gewesen, die Kinder auch mal laufen zu lassen. Ich werde auch hin und wieder dafür angegriffen, dass ich so locker sage, das geht irgendwie schon alles – so von unserer hohen Rossposition: beide Akademiker, beide gut bezahlte Jobs in unterschiedlicher Stundenintensität mit der Möglichkeit, genug Raum zu haben und über mehrere Jahre hinweg auch ein Au-pair unterbringen zu können. Das erleichtert natürlich alles. Aber auf der anderen Seite hieß das, dass wir früher loslassen mussten. Und das geht.
Daniel Bialecki: Das schlechte Gewissen kommt also aus zwei Richtungen: Ein bisschen von uns selbst, weil wir gestiegene Ansprüche haben und alles so gut wie möglich machen wollen. Aber natürlich auch von äußeren Faktoren wie dem Arbeitsmarkt, der Wirtschaft und dem Bildungswesen – das alles übt Druck auf uns aus.
Entlastung zwischen Job und Familie: Wie wir unseren Perfektionismus ein Stück weit ablegen können
Wolfgang Lünenbürger-Reichenbach:
Ich glaube, dass uns teilweise Vorbilder fehlen. Für mich und meine Frau war es total befreiend, als wir das erste Mal auf einem Familienseminar für Familien mit zwei oder mehr Kindern waren. Es war angeleitet, im Seminar auch über den Alltag zu sprechen. Denn was wir oft vergessen ist, dass wir auch mit engen Freunden faktisch nicht über den Alltag sprechen, nur in Extremsituationen. Aber wir erleben Familien nur ganz selten in Alltagssituationen. Deshalb haben wir schnell das Gefühl, dass wir die einzige Familie sind, bei denen es so scheiße läuft. Das war besonders in unserer Anfangsphase ein ziemlich großes Thema, weil wir uns bewusst für ein anderes Modell entschieden haben (…): Meine Frau war lange Zeit zu Hause, hat danach erst ihre Ausbildung beendet und ich habe Vollzeit gearbeitet. Dafür wurden wir auch angefeindet.
Der zweite große Punkt, der zur Entlastung geführt hat, war, als wir auch andere Familienblogs entdeckten. Und auf einmal, ohne die Menschen zu kennen und ihnen auf die Pelle zu rücken, erlebten, dass es anderen Familien genauso geht.
Patricia Cammarata:
Ich würde empfehlen: Hilfe annehmen, wo es geht, durch Verwandte oder Freunde. Sich nicht zieren, sondern darauf zählen, dass es sich irgendwann auch wieder ausgleicht. Das entlastet. Wenn ich weiß, ich kann alles auf fünf Leute verteilen, ist das was anderes, als wenn ich selbst alles leisten muss. Und wenn ich alleinerziehende Freundinnen von mir anschaue, ist es mir ein Rätsel, wie man das durchstehen kann, ohne einen Burnout zu bekommen.
Für mich ist es sehr wichtig, darüber zu sprechen, wie der normale Alltagswahnsinn aussieht, egal wie – ob mit Freunden oder Lehrern. Was mir an Blogs so hilft, ist, zu sehen, was Familiennormalität wirklich ist. Das kann man natürlich auch einfach mündlich mitteilen, indem man zugibt, wo man Probleme hat, wo man scheitert, wo man auf Dinge zurückgreifen musste, die keinem Ideal entsprechen – aber was eben auch geht. Man muss manchmal Mut haben, diese Lücken offen zu legen. Hier bloggt Patricia zum Thema Vereinbarkeit und Perfektionismus.
Wolfgang Lünenbürger-Reidenbach:
Und dass eben nicht alles perfekt sein muss. (…) Und dass eine Beziehung nicht unbedingt zu Ende ist, wenn das Kribbeln weg ist. Genauso ist es doch auch mit Familie. Auch da ist es nicht jeden Tag geil und heititei. Und Schule ist auch mal ätzend.
Susanne Garsoffky:
Ich glaube auch, dass Ehrlichkeit total wichtig ist, auch bei denen, wo alles so perfekt scheint. Wichtig ist aber auch, zu benennen, was eigentlich an Rahmenbedingungen fehlt. Mich nervt, dass hier oft ein Jammerton unterstellt wird. Das diskreditiert Menschen, die da stehen und sagen, ich krieg es einfach nicht hin! Wichtig ist also beides: zu verraten, z. B. in Blogs, wie wir das schaffen, aber auch parallel zu sagen, welche Rahmenbedingungen nicht stimmen und welche wir in den nächsten zwei bis drei Jahren in den Griff bekommen müssen, damit diejenigen, die wirklich darunter leiden, wieder Chancen bekommen.
Wolfgang Lünenbürger-Reidenbach:
Die Autoren des Buches “Geht alles gar nicht!” z. B., die haben keinen Grund zu jammern, nur weil sie in den 25 Jahren, in denen sie sich um die Kinder kümmern, nicht mehr jede Woche ins Konzert gehen können. Übertrieben gesagt. Ich muss nicht alles zu jeder Zeit machen. Ich sehe auch das Problem der Rush Hour des Lebens. Das finde ich aber neben den grundsätzlichen und politischen Schwierigkeiten auch hausgemacht, weil ich eben glaube, dass ich das alles in der Phase machen muss.
Mein Plädoyer an diejenigen, denen es gut geht und die es gut hinkriegen, ist, dass gerade die dafür kämpfen, dass es auch für andere geht. Das ist das, was Solidarität meint, dass die Starken sich mit den Schwachen zusammentun. Mich ärgern Leute, die aus ihrer starken Position nur ein Lamentieren und Fordern machen, aber kein Umsetzen.
Elternfrage: „Ich habe manchmal den Eindruck, dass wir Mütter uns gegenseitig total verrückt machen. Die eine erzählt, sie müsste noch mehr mit den Kindern für die Schule machen und die andere prahlt damit, was sie nebenbei noch macht. Wie kann man sich davor schützen, dass man genau das denkt, dass bei der anderen alles super läuft, bei einem selbst aber nicht?“
Mathias Voelchert:
Indem man genau das tut, was wir gerade tun. Wir tauschen uns aus, wir hören einander zu und merken, dass es dem anderen genauso geht. Diese Erfahrung machen wir auch im „Familylab“ ständig: Wenn Eltern beieinander sitzen, merken sie, dass es anderen genauso geht. Es ist gut, zu spüren, dass man gar nicht „falsch“ ist und es ein normaler Prozess ist, dass sich der Druck und Stress potenziert, wenn ein oder zwei neue Familienmitglieder in die Familie kommen. Weil wir eben noch nicht gelernt haben, damit umzugehen. Als Eltern sind wir jedes Mal Anfänger und je älter die Familie wird und je mehr Kinder dazu kommen, umso höher werden Druck und Stress. Bis man ab dem dritten und vierten Kind sagt, also das kann ich gar nicht mehr aushalten, die müssen selber etwas übernehmen – und dann geht es. (…)
Dieses Interview ist ein Auszug aus unserem 4. Digitalen Elternabend zum Thema Vereinbarkeit. Die Antworten sind teilweise gekürzt und zum Zwecke der Lesbarkeit leicht umformuliert. Der Sinn der Aussagen wurde dabei nicht verändert. Hier können Sie sich den scoyo-Elternabend noch einmal anschauen.
Haben Sie ein schlechtes Gewissen oder ein gutes Lebensmodell gefunden, von dem Sie erzählen möchten?
Zurzeit läuft eine Blogparade zum Thema schlechtes Gewissen, die wir gemeinsam mit Annelu von Grosse Köpfe gestartet haben (zur Parade). Hier können Sie Ihren eigenen Beitrag veröffentlichen oder einfach in den Kommentaren erzählen, wie es bei Ihnen zu Hause aussieht.
Sehr gefallen unter den bereits eingebrachten Beiträgen hat uns vor allem der Artikel von Jessi: “Also tut mir einen Gefallen und fragt mich nicht nach meinem schlechten Gewissen und fragt am besten auch andere nicht danach. Hört aber zu, wenn jemand davon erzählt. Hört diesem Menschen zu und macht ihm Mut, unterstützt, sucht nach Lösungen – oder macht ihm im Zweifelsfall klar, dass es für dieses furchtbare Gefühl absolut keinen Grund gibt.” Zum ganzen Artikel geht´s hier.
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