Philosophische Hausaufgabenweisheiten
Katharina Looks
“Warum muss ich Lateinvokabeln lernen, Papa?”
Was tun, wenn die leidigen Hausaufgaben mal wieder zu Missverständnissen, Tobsuchtsanfällen und Streit mit den Kindern führen? Einfach römische Philosophen zitieren. Denkt zumindest Christian Hanne.
Kolumne von Christian Hanne, Blog Familienbetrieb.
Die Geschichte der Hausaufgaben ist seit jeher eine Geschichte familiärer Missverständnisse, unversöhnlicher Meinungsverschiedenheiten und cholerischer Tobsuchtsanfälle.
Es gibt Treffen gewaltbereiter Hooligans, die friedfertiger ablaufen als das gemeinsame Erledigen von Hausaufgaben von Kindern und Eltern. Bei uns zuhause ist das nicht anders.
Meine humanistische Schulbildung ermöglicht es mir aber immerhin, in konfliktären Situationen mit meinen Kindern, die sich um das Anfertigen von Schulaufgaben drehen, den schönen Satz anbringen zu können: „Non scholae, sed vitae discimus!“ („Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir!“).
Das hat so ähnlich Seneca gesagt, ein berühmter Philosoph und Gelehrter, der im Rom des 1. Jahrhunderts nach Christi lebte. Und wenn ein berühmter Philosoph etwas sagt, hat er sicherlich lange genug darüber nachgedacht, so dass man geneigt ist, ihm Glauben zu schenken. Nicht so unsere Tochter, mit ihrem jugendlichen Misstrauen, das auf zwölf Jahren Lebenserfahrung und dem täglichen Konsum von YouTube-Videos beruht.
Als ich ihr diese Weisheit im Original vortrug – einer der wenigen Momenten in meinem Leben, in dem sich die sieben Jahre Lateinunterricht auszahlten – schaute die Tochter mich an, als sei ich von Dämonen besessen und spräche in Zungen. Die Tochter ließ den Satz vom Lernen für das Leben nicht als angemessene Antwort auf ihre anklagend-vorwurfsvolle Frage gelten, wofür sie überhaupt Kommutativ-, Distributiv- und Assoziativgesetzt lernen müsse, denn das sei doch alles unnützer Quatsch. Sie brachte ihre Skepsis gegenüber dem Senecaschen Kalenderblattspruch mit einem kurzen, prägnanten „Hä?“ zum Ausdruck.
Für die Überwindung des generationsübergreifenden Hausaufgabenkonflikts bieten die Schriften Senecas als führendem Vertreter des Stoizismus jedoch Lösungen an. Die stoische Lehre besagt nämlich, der Mensch solle seine Affekte beherrschen und das Leid gefasst ertragen. Schule ist halt kein Ponyhof und das müssen Kinder akzeptieren. Und Eltern auch.
Nun war Seneca allerdings kinderlos und musste dementsprechend nie mit einer störrischen, präpubertären Tochter ausdiskutieren, ob das konsonantische Deklinieren lateinischer Nomen irgendeine alltagspraktische Relevanz hat und inwiefern das hilfreich ist, um YouTube-Star zu werden. Wer solche Situationen nicht kennt, fabuliert dann möglicherweise etwas zu leichtfertig von gleichmütiger Affektbeherrschung und klaglosem Leidertragen.
Die Einhaltung stoischer Dogmen stellt während der Hausaufgaben ohnehin eine beträchtliche Herausforderung dar, wenn im Minutentakt gejammert wird: „Ich kann das nicht!“ – und zwar im Tonfall eines altägyptischen Klageweibs. Hierzu hat der gute Seneca ebenfalls eine kluge Sentenz parat: „Nolle in causa est, non posse praetenditur.“ („Nichtwollen ist der Grund, Nichtkönnen nur der Vorwand.“) Oder wie Stromberg es ausdrückt: „Kann-Nicht wohnt ja meistens in der Will-Nicht-Straße.“ Ein Spruch, den man vielleicht besser für sich behält, wenn einem daran gelegen ist, dass die sowieso schon explosive Hausaufgabensituation nicht vollkommen eskaliert.
Trotz dieser nicht zu verleugnenden Spannungen können sowohl Kinder als auch Eltern durch das gemeinschaftliche Erledigen der Hausaufgaben aber sehr wertvolle Erfahrungen machen. Denn wo könnten Kinder eine bessere Lektion in Frustrationstoleranz bekommen als im geschützten Raum des väterlich-strengen Abfragens binomischer Formeln („Das verstehe ich nicht.“)? Außerdem lernen Kinder durch das Überprüfen ihrer Hausaufgaben das wichtige demokratische Prinzip, auch abweichende Meinungen gelten zu lassen („Ist mir doch egal, ob du Dürrenmatt gut findest. Ich finde den trotzdem doof. Auf Instagram hätte der bestimmt keine Fans.“).
Eltern wiederum bietet das gemeinsame Lernen die Gelegenheit, sich wie allwissende Universalgenies zu fühlen, wenn sie mit ihrem Kind den Grundschulstoff in Mathematik, Deutsch und Sachkunde durchgehen („Woher weißt du das alles?“). Später können sie sich dann in Demut üben, wenn das Kind eine weiterführende Schule besucht und von ihnen wissen will, unter welchen Bedingungen Eisen am schnellsten korrodiert, was die Merkmale der Außenpolitik Bismarcks sind und welche unterschiedlichen Klimazonen es auf der Erde gibt. Da bleibt dann nur die Hoffnung, dass das WLAN stabil und im Internet eine schnelle Antwort zu finden ist. Den Kindern kann dies als anwendungsorientierte Problemlösungsstrategie verkauft werden.
Seneca war weitsichtig und klug genug, um sich über diese engen Grenzen des elterlichen Wissens im Klaren zu sein: „Die Zeit wird kommen, wo unsere Nachkommen sich wundern, dass wir so offenbare Dinge nicht gewusst haben.“ Aber wenn unsere Kinder zu dieser Erkenntnis gelangen, werden sie selbst Kinder haben. Und sich mit deren Schulaufgaben herumärgern. So lehrt es uns die Geschichte der Hausaufgaben.
Eine Kolumne von Christian Hanne, Blog Familienbetrieb.
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Über Christian Hanne
Christian Hanne, Jahrgang 1975, ist im Westerwald aufgewachsen und hat als Kind zu viel von Ephraim Kishon gelesen und zu viel „Nackte Kanone“ geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Auf seinem Blog „Familienbetrieb“, auf Twitter und Facebook schreibt er über den ganz normalen Alltagswahnsinn. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September ist sein Buch “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith” im Seitenstraßenverlag erschienen. In zwölf gar nicht mal so kurzen Kurzgeschichten schreibt er darüber, wie Schwangerschaft, Marathongeburten und nachtaktive Babys eine moderne, gleichberechtigte Partnerschaft auf die Probe stellen.
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