Gebt die Schrift nicht frei! | Kolumne “Die Elternflüsterer”
Katharina Looks
Bildungsunternehmerin
Das Erlernen einer flüssigen Schreibschrift zählt zu den Fundamenten des Lernens – gerade im Zeitalter des Tippens, so Christian Füller. Er ist damit ganz anderer Meinung als seine Co-Elternflüsterin Béa Beste.
16.06.2015, Kolumne “Die Elternflüsterer” von Christian Füller
Neulich hatte ich ein komisches Erlebnis. Ich wollte mit der Kreditkarte bezahlen. Kinderleicht per Pin. Nur murmelte die Kassiererin plötzlich: Sie müssen unterschreiben. Ich war gerade mit den Gedanken ganz woanders. Und signierte fix. “Das ist nicht Ihre”, brummte die Frau. “Bitte nochmal!” Ich wiederholte und scheiterte wieder. Ich versuchte es langsam. Das sah zwar sehr schön aus – aber leider anders als auf der Kreditkarte. Die Kassiererin trommelte mit den Fingern, die Schlange hinter mir grummelte – und ich fühlte mich plötzlich sehr verloren. “Du kannst Deine eigene Unterschrift nicht mehr!”
Das Schreibenlernen freizugeben, ist verantwortungslos
Meine Co-Kolumnistin Béa will das Schreibenlernen frei geben, und ich finde das falsch. Nicht nur wegen meiner Kreditkarte.
So sympathisch und wichtig das freie Probieren und Begreifen für lernende Kinder auch ist, das Erlernen der Schrift ist der fundamentalste aller Lernvorgänge – er findet angeleitet in der Schule statt. Und durch uns selbst. So entwickeln wir aus Anleitung plus Bewegung unsere „eigene Handschrift“. Dieser scheinbar so flüssige Schreibschwung, über den wir nicht mehr nachdenken, weil wir ihn längst automatisiert haben, steckt voller komplexer Komponenten. Sie machen unsere Schrift aus – und auch uns als Person.
Es geht – mehr noch als beim Lesen – um Literalität, also die Fähigkeit zur aktiven Teilhabe an der Schriftkultur. Zugleich steckt Handwerk und Ästhetik im Erlernen einer Schrift. Schreiben ist eine bedeutsame feinmotorische Bewegung. Selbst das vermaledeite Üben ist wichtiger Teil des Schreibenlernens. “Anmut sparet nicht noch Mühe”, dichtete Brecht, und ich kenne wenige Fertigkeiten, für die das gilt wie für die Schrift.
Kurz gesagt: Dass sich Schulkinder das Schreiben selber beibringen sollen, ist total gaga! Die Kapitulation von Schule. Eine – verzeih` Béa – ziemliche Verantwortungslosigkeit vor allem gegenüber Kindern, die nicht bei Architekten und Schulgründern aufwachsen.
Kinder feiern es als Eroberung, flüssig schreiben zu können
Wir reden hier übrigens nicht von der Druckschrift. Damit sollen Kinder ab 3 Jahren anfangen zu experimentieren. Da bin ich bei Béa. Ich spreche von einer flüssigen, verbundenen und lesbaren Schreibschrift, die im Kern unsere Fähigkeit ausmacht, uns mitzuteilen. “Seine Handschrift”, sagt man, wenn jemand einer Disziplin seinen Stempel aufdrückt. Durch besondere, eigenwillige Könnerschaft.
“Gebt die Schrift frei”, deklamiert Béa, und ich sehe sie, wie sie auf die Barrikaden der Schreibrevolutionäre tritt. Und die Füller zerbricht. 😉 Gerade so, als sei das Schreiben ein Akt der Unterdrückung. Was für ein Missverständnis! Dürfen wir wirklich das Beispiel eines zum Schlagwerkzeug umfunktionierten Holzlineals, erlitten vor vielen Jahren in Rumänien, als Grund für die Abschaffung des Schreibunterrichts nehmen? Es stimmt, die Methoden des Schönschreiblernens, sie waren nicht immer vergnügungssteuerpflichtig. Aber, pardon, Kujonierung ist das nicht, heute schon gar nicht mehr. Im Gegenteil: Kinder feiern es als Eroberung, flüssig schreiben zu können.
Nicht jeder Sechsjährige kann die Schrift neu erfinden
Gebt die Schrift frei, das Klavierspiel, das Schwimmen, das Fallschirmspringen, man könnte die Aufzählung fortsetzen. Aber: Es gibt Fertigkeiten, da empfiehlt es, sich mit Könnern zu üben. Sie von einem guten Lehrer zu lernen. Ich erinnere meine Grundschullehrerin Frau Büchs fürs Schreiben, das Mathe-Erklär-Genie Herrn Miltner für Zahlen, einen Fußball-Trainer für den Hackentrick, meinen Großvater, der mich mit drei aufs Fahrrad setzte. Und und und.
So ist es bei der verbundenen Schrift. Jeder findet seine individuelle Handschrift, aber er kann doch, bitte, nicht als Sechsjähriger die Schrift neu erfinden. Was muten wir unseren Kindern da zu?!
Schrift ist nicht nur persönlich, sie ist zur Verständigung so bedeutsam wie zur Gewinnung von Individualität. Schreiben ist Ich und Wir. Wir können also unser gemeinsames Zeichensystem nicht in Kinderhände übergeben. Es kann sich nicht jeder seine Schrift aussuchen. Kinder suchen sich auch ihre Muttersprache nicht aus. Das geht übrigens gerade dann nicht, wenn wir in einer digitalen Gesellschaft leben, in der man nicht mehr schreibt, sondern vor allem tippt.
Was passiert, wenn das kleine Tippgerät ausfällt, und sei es noch so smart, kann man Jugendlichen besonders schön auf Campingplätzen anmerken: Sie sind verloren, entkoppelt, allein. Sie flippen aus – weil sie sich nicht mehr mitteilen können.
Es geht ihnen wie dem armen Kerl, dessen Unterschrift für die Kreditkarte nicht mehr identifizierbar ist.
Eine Kolumne von scoyo-Elternflüsterer Christian Füller
Bildungsunternehmerin als Antwort auf die Zeilen von Béa Beste vom 8. Juni 2015: ‘Die Sache mit der Schrift ist ganz einfach: Lasst sie frei!’
Über Christian Füller
Christian Füller ist Journalist (u.a. FAS, Spiegel Online und Freitag) und Autor diverser Bücher über gute Schule und neues Lernen. Er hat sich dabei auch mit Eltern auseinandergesetzt. In „Ausweg Privatschulen“ (2010) gibt er Hinweise, welche private Schule sich lohnen könnte. In „Die Gute Schule“ (2009) analysiert er, warum Eltern so wahnsinnig wichtig fürs Lernen sind. Füller hat mit Jesper Juul über Eltern gestritten, die ihre Kinder immerzu nach ihrem Befinden befragen. Er hat bei Spiegel Online als ihr wichtigstes Prinzip „my kind first“ ausgemacht. Füller hat selbst zwei Kinder und hassliebt es immer noch, Elternvertreter zu sein.
Twitter: @ciffi | twitter.com/ciffi
Die Kolumne “Die Elternflüsterer”
Im Wechsel flüstern der Journalist Christian Füller und Bildungsunternehmerin Béa Beste den Eltern Geschichten und Beispiele aus der wunderbar chaotischen Welt des Lernens und Lebens ins Ohr.
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