In den nächsten Wochen enden in ganz Deutschland die Anmeldefristen für die weiterführenden Schulen. Vielleicht gehören Sie zu den Eltern, deren Kind keine Gymnasialempfehlung bekommen hat, und für Sie ist eine Welt zusammengebrochen, denn der Weg Ihres Kindes zum Medizin- und Jura-Studium und zu einer glänzenden, Reichtum versprechenden Karriere scheint verbaut zu sein. (Und wer soll dann später für den Unterhalt der luxuriösen Senioren-Residenz auf Mallorca bezahlen, in der Sie Ihren Lebensabend zu verbringen gedenken?)
Die heutige Kolumne möchte Ihnen aber Mut machen und voller Mitgefühl zurufen: „Verzweifeln Sie nicht!“. Das Leben ist auch ohne Gymnasium schön. Vielleicht sogar viel schöner, denn das von allen angestrebte Gymnasium ist möglicherweise überschätzt und die anderen Schulformen scheinen bei genauerer Betrachtung sehr viel vorteilhafter zu sein. Aber lesen Sie selbst!
Sit back and relax: tiefenentspannt durch die Schulzeit
Kein Wunder, dass immer mehr Gymnasiastinnen und Gymnasiasten unter Erschöpfungsdepressionen leiden. Viele von ihnen sind nur in der Lage, das Lernpensum zu schaffen, indem sie sich zum Frühstück einen Cocktail aus Amphetaminen, Ritalin und Modafinil reinpfeifen. Und um dem Chemie-, Mathe- oder Geschichtsunterricht folgen zu können, werden in der Pause literweise Energy-Drinks und Mate-Limos geext.
Indem Ihr Kind nicht aufs Gymnasium geht, erspart es sich das Schicksal eines burn-out-gefährdeten Key-Account-Managers. Für Sie persönlich hat das außerdem den großen Vorteil, Ihre Niere nicht auf dem Schwarzmarkt verkaufen oder nackt putzen gehen zu müssen, um bei zwielichtigen Dealern die ganzen chemischen Wachmacher und Konzentrationsbooster für Ihr Kind besorgen zu können.
Ihr Kind kann es auf der Real- oder Hauptschule im Vergleich zum Gymnasium wesentlich gemütlicher angehen lassen und eine unbeschwerte Jugend genießen. Es kann ganze Wochenenden durchchillen, ohne das Bett zu verlassen, alle 10.229 YouTube-Videos von Gronkh anschauen, einen neuen Weltrekord im Netflix-Bingewatchen aufstellen und sämtliche Teile von Grand Theft Auto bis zum Ende durchspielen.
Nach der Mittleren Reife ist Ihr Kind dann tiefenentspannt wie ein Zen-Mönch, so dass es aufs Gymnasium wechseln und ganz relaxt sein Abitur machen kann.
Niemand braucht minderjährige Studenten
An vielen Gymnasium wird das Abitur – zumindest gegenwärtig noch – schon nach zwölf Jahren abgelegt. Somit erlangen die meisten Schülerinnen und Schüler ihre Hochschulreife, bevor sie die Volljährigkeit erreicht haben. Sie als Eltern müssen dann mit ins Einschreibebüro der Uni dackeln und eine Unterschrift leisten, damit Ihre Brut exotische Fächer wie Papyrusforschung, Fennistik oder Betriebswirtschaftslehre studieren kann.
Da ist es geradezu ein Glücksfall, wenn Ihr Kind nicht aufs Gymnasium geht. Nach der Mittleren Reife beginnt es hoffentlich eine Ausbildung und verdient ein eigenes Gehalt, was für Sie eine lukrative Einnahmequelle bedeutet. Sie können von Ihrem Kind Geld für Kost und Logis verlangen, wodurch sie die Möglichkeit haben, zwei- bis dreimal im Jahr Städtereisen ins europäische Ausland zu unternehmen. Bedauerlicherweise ohne das Kind, denn so viel Miete können Sie ihm auch nicht abknöpfen. Außerdem muss es ja arbeiten.
Elternabend: Let me entertain you!
Aus der Grundschulzeit Ihres Kindes wissen Sie bereits, dass Elternabende, so wichtig sie auch für den Austausch mit den Lehrerinnen und Lehrern sind, häufig sehr anstrengend sein können. Aus eigener Erfahrung kann ich Ihnen versichern: Auf dem Gymnasium sind Elternabende noch viel schlimmer. Keine Nichtigkeit ist trivial genug, um nicht in epischer Breite ausdiskutiert zu werden, die Aussage “Es gibt keine dummen Fragen” verliert ihre Gültigkeit und eine Runde chinesische Wasserfolter erscheint eine mehr als attraktive Alternativbeschäftigung zu sein.
Als Krönung eines langen, stressigen Arbeitstages müssen Sie sich mit den vollkommen bizarren Vorstellungen anderer Eltern auseinandersetzen: “Ich möchte unter keinen Umständen, dass im Sportunterricht gefährliche Sportarten wie Basketball ausgeübt werden. Sonst verletzt sich Karl-Theodor seine zarten Finger und kann nicht am Cello-Vorspiel teilnehmen.” Ein Moment, in dem Sie auch als radikal-pazifistisch gesinnter Mensch das dringende Bedürfnis verspüren, sich einen Arm auszureißen, um damit den Vater des Nachwuchs-Cellisten zu verhauen.
Dagegen sind Elternabende auf Gesamt-, Real- oder Hauptschulen geradezu paradiesisch. Zum einen ist die Zahl der anwesenden Eltern deutlich geringer und ihre Diskussionsbereitschaft ist weniger stark ausgeprägt. Beides wirkt sich sehr vorteilhaft auf die Dauer des Elternabends aus. Zum anderen haben die besprochenen Themen einen wesentlich höheren Unterhaltungswert. Da geht es zum Beispiel darum, dass “Du Opfer” keine adäquate Anredeform ist. Insbesondere nicht gegenüber dem Lehrpersonal. Oder darum, wie der Drogenkonsum in den Pausen auf ein verträgliches Maß reduziert werden kann, um den Unterricht in geregelten Bahnen abzuhalten. (Damit keine Missverständnisse entstehen: Es geht um den Drogenkonsum auf dem Pausenhof, nicht im Lehrerzimmer.)
Aus reinstem Eigennutz sind unterhaltsame Elternabende ein sehr guter Grund, Ihr Kind nicht ohne Not aufs Gymnasium zu schicken.
Wer braucht schon Abitur?
Heutzutage ist es durchaus möglich, auch ohne Hochschulreife eine glänzende Karriere hinzulegen. Vielleicht erinnern Sie sich noch an die letzte Kolumne und an Thomas Mann, der es mit Realschulabschluss bis zum Literaturnobelpreis schaffte.
Es gibt aber auch Fälle, die der Lebenswelt Ihrer Kinder möglicherweise näher sind. Zum Beispiel Sido. Das ist dieser Rapper, der früher nur mit Maske aufgetreten ist. (Nein, nicht Cro. Das ist der Typ mit der Pandafresse.) Mit fast vier Millionen verkauften Tonträgern gehört Sido zu den erfolgreichsten Rappern Deutschlands. Und das, obwohl er nur einen Hauptschulabschluss hat. (Unter Umständen hat dies seinen Erfolg sogar begünstigt.)
Als Eltern wird es Sie sehr freuen, dass Sido auch ohne Abitur und trotz seines Erfolges seine Mutter abgöttisch liebt. In seinem Song “Mama ist stolz” bringt er dies in – zugegebenermaßen etwas schlichten und die Grenzen der Grammatik strapazierenden aber dafür sehr ehrlich gemeinten – Sätzen zum Ausdruck:
Ich werd’ dir doppelt so viel Gutes tun, wie du für mich gemacht hast!
Wünsch’ dir was und Ich schwör’ dir ich mach das!
Ich will dir noch so viel sagen, doch ein Track reicht nicht!
Ich bin froh, dass du mich liebst! Dein Sohn ist stolz auf dich!
Sätze, die Sie sicherlich gerne auch mal von Ihrem Kind hören würden.
Der Vollständigkeit halber sei allerdings erwähnt, dass sich Sidos Liebe zu Müttern auf die eigene beschränkt. 2009 stand er vor Gericht, weil er einer gehbehinderten Rentnerin erläuterte, er gedenke, mit einer ihrer Krücken ihre Mutter zu erschlagen. Sidos cholerisches Temperament und sein Mangel an allgemein akzeptieren Umgangsformen muss aber nicht zwangsläufig damit zu tun haben, dass er nicht aufs Gymnasium gegangen ist. Von daher können Sie Ihr Kind ruhigen Gewissens auf die Real- oder Hauptschule gehen lassen. Es wird schon irgendwie gut gehen.
Gut Ding will Weile haben
Nun werden Sie einwenden, dass nicht jedes Kind mit dem Talent und der Street Credibility gesegnet ist, um Erfolg als Gangster Rapper zu haben. Daher wäre so ein Abitur prinzipiell doch keine schlechte Sache. Obwohl Sie damit nicht ganz Unrecht haben, muss ihr Kind trotzdem nicht die besten Jahre seiner Jugend mit dem Büffeln auf dem Gymnasium verbringen. Heutzutage ist es durchaus üblich, das Abitur später zu machen, etwa auf der Abendschule oder im Erwachsenen-Kolleg. Ihr Kind hat also sein ganzes Leben Zeit, sein Abi zu machen.
Hier taugt beispielsweise die Berlinerin Sonja Rasch als glänzendes Vorbild. Die hat 2008 ihre Hochschulreife auf dem zweiten Bildungsweg erworben. Und zwar mit stolzen 78 Jahren und nur sechs Monate nach einer Herzklappen-OP.
Reflexartig denken Sie jetzt womöglich, dass sei doch ein bisschen sehr spät, aber wenn Sie nur ein wenig darüber nachdenken, werden Sie sehen, dass die Vorteile eines späten Abiturs nicht von der Hand zu weisen sind.
Bei einer fast 80-jährigen Schülerin müssen Sie als Eltern nicht die Erledigung von Hausaufgaben anmahnen oder unregelmäßige französischen Verben abfragen. Außerdem werden Sie auch nicht am späten Abend von der Ankündigung überrascht, am nächsten Tag fände in der Schule ein Kuchenverkauf statt, für den Sie noch 64 glutenfreie, vegane Dinkelmehl-Cup-Cakes backen müssten.
Einen winzigen Nachteil hat es allerdings doch, wenn Ihr Kind erst im Greisenalter Abitur macht: Sie leben dann wahrscheinlich gar nicht mehr und können nicht mit ihm zum Abi-Ball gehen. Also, schicken Sie Ihr Kind vielleicht doch lieber jetzt schon aufs Gymnasium.
Weitere Kolumnen von Christian Hanne hier im ELTERN! Magazin:
Kolumne von Eltern für Eltern
Im Wechsel schreiben Blogger und Journalisten über Themen, die Eltern bewegen. Lesen Sie hier Geschichten und Beispiele aus der wunderbar chaotischen Welt des Lernens und Lebens. Alle Kolumnen ansehen.
Über den Autor
Christian Hanne, Jahrgang 1975, ist im Westerwald aufgewachsen und hat als Kind zu viel Ephraim Kishon gelesen und ‘Nackte Kanone’ geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und ihren beiden Kindern in Berlin-Moabit. Auf seinem Blog ‘Familienbetrieb’, auf Twitter und Facebook schreibt er über den ganz normalen Alltagswahnsinn. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September ist sein Buch “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith” im Seitenstraßenverlag erschienen. In zwölf gar nicht mal so kurzen Kurzgeschichten sinniert er darüber, wie Schwangerschaft, Marathongeburten und nachtaktive Babys eine moderne, gleichberechtigte Partnerschaft auf die Probe stellen.
Eine Kolumne von Christian Hanne, Blog Familienbetrieb.
Viele Lehrer und Erzieher mögen zwar die Köpfe über so viel Lernwahn schütteln, ich dagegen halte mit der Autorität eines nach einem Semester abgebrochenen Pädagogik-Studiums das Lernen in den Sommerferien für essenziell. In diesen neoliberalen Zeiten müssen wir unsere Kinder fit für den globalisierten Arbeitsmarkt machen, wo sie später mit asiatischen High-Potentials, die von klein auf von überehrgeizigen Tiger Moms verbissen auf Hochleistung gedrillt werden, um die besten Jobs konkurrieren.
Sie stimmen mir sicherlich zu, dass es geradezu fahrlässig wäre, die Sommerferien nicht zum Lernen zu nutzen. Außer Sie wollen Ihre Kinder auf direktem Weg in die Arbeitslosigkeit und Armut schicken. Allerdings sollten Ihre Kinder ihre Zeit in den Ferien nicht mit alltagsfernen Nichtigkeiten wie Algebra, unregelmäßigen Verben oder dem chemischen Periodensystem vergeuden. Stattdessen sollten sie wichtige Kompetenzen erlernen, die sie später beruflich voranbringen werden und ihnen eine steile Karriere ermöglichen. Dazu eignen sich die folgenden fünf Lektionen ganz hervorragend.
Lektion 1: Meeting-Qualen durch Autoreisen simulieren
Das Berufsleben ist durch eine Vielzahl nervtötender Meetings gekennzeichnet, bei denen man stundenlang in schlecht durchlüfteten Räumen auf engstem Platz zusammengepfercht sitzt und keine Chance hat, die Flucht zu ergreifen. Wer darauf nicht frühzeitig vorbereitet wird, entwickelt in solchen Meetings schnell suizidale Gedanken und setzt sie womöglich an Ort und Stelle in die Tat um.
Die Sommerferien eignen sich glücklicherweise ganz hervorragend, damit Ihre Kinder lernen, mit solchen Situationen fertig zu werden. Wählen Sie dazu ein Urlaubsziel, das mindestens 1.800 Kilometer entfernt ist. Für die Autofahrt zu Ihrer Urlaubsdestination nutzen Sie vorzugsweise Autobahnen mit erhöhtem Staurisiko und bei Außentemperaturen von über 30 Grad schalten Sie konsequent die Klimaanlage ab. Planen Sie maximal zwei fünfzehnminütige Pausen ein, in denen Sie Ihren Kindern abgestandenes Wasser und alte Kekse reichen.
Wenn Ihre Kinder über mehrere Jahre diese Reisetorturen ertragen mussten, werden sie sich genügend Ausdauer, Sitzfleisch und Gleichmut antrainiert haben, um später mit Leichtigkeit die Grenzerfahrung mehrstündiger Meetings zu überstehen.
Kinder, die auf den Urlaubsfahrten immer mit ihren Geschwistern auf der Rückbank zusammengequetscht wurden, haben zusätzlich noch die notwendige Selbstbeherrschung erlernt, die verhindert, seinem Sitznachbarn einfach eine reinzuhauen. Eine Fähigkeit, die bei beruflichen Meetings von größter Wichtigkeit ist.
Lektion 2: Durch YouTube-Binge-Watching auf Präsentationsfolter vorbereiten
Immanenter Bestandteil der eben beschriebenen Meetings sind qualvolle Vorträge. Öde Inhalte, mangelhafte Rhetorikfähigkeiten und ästhetisch fragwürdige PowerPoint-Präsentationen gehen dabei eine unheilvolle Allianz ein, so dass sich die Zuhörerschaft aus Selbstschutz in einen wachkomatösen Dornröschenschlaf an der Grenze zum Hirntod versetzt.
Nutzen Sie die Sommerferien, damit Ihre Kinder lernen mit solchen Präsentationen, die eigentlich durch die Genfer Menschenrechtskonventionen als unerlaubte Folterpraxis verboten werden müssten, umzugehen: Durch ausufernden Medienkonsum. Dank Privatfernsehen, Streamingdiensten, YouTube, SnapChat und Musical.ly gibt es heutzutage glücklicherweise unerschöpfliche Möglichkeiten der Rund-um-die-Uhr-Dauerberieselung und dem Niveau sind nach unten keine Grenzen gesetzt.
Ermutigen Sie Ihre Kinder in den Sommerferien so viel Zeit wie möglich vor ihren mobilen Endgeräten zu verbringen und dabei kann kein Beauty-, Prank- oder Challenge-Video dümmlich genug sein. Wenn Ihre Kinder ‚BibisBeautyPalace‘, ‚Julien Bam‘ und ‚Gronkh‘ in 24-Stunden-Dauerschleife überlebt haben, sind sie später gewappnet, die inhaltsfreien mit Word-Art-Grafiken aufgepeppten PowerPoint-Vorträge ihres Chefs zur Unternehmensstrategie der nächsten zehn Jahre auszuhalten.
Lektion 3: Kulinarische Expertise durch Hipster-Eis entwickeln
Wer beruflich erfolgreich sein will, muss sozialen Verpflichtungen nachkommen und sich zu Arbeitsessen treffen. Da ist es wichtig, sich auf dem kulinarischen Parkett sicher zu bewegen. Sie möchten sicherlich nicht, dass Ihre Kinder, wenn sie groß sind, Ei Benedict mit in Pastinakensaft gebeizter Makrele auf gedämpftem Schwarzkümmelbrötchen verschmähen und den Eindruck erwecken, sie entstammen einer Gelsenkirchener Grubenarbeiterfamilie, für die Currywurst mit Pommes-Schranke als Höhepunkt der Haute Cuisine gilt. Dann ist es mit der Karriere schneller vorbei, als Sie Kobe Beef von Tajima Rindern mit frischem Wasabi und Yuzusaft-Sojasauce sagen können.
Diesem Schicksal können Ihre Kinder entgehen, indem sie frühzeitig ausgefallene Zutatenkombinationen und exotische Geschmäcke kennenlernen. Gehen Sie dazu in den Sommerferien jeden Tag mit Ihren Kindern in eine Hipster-Eisdiele, wo Gurken- und Meloneneis zum Mainstream experimentierscheuer Spießbürger zählt. Ordinäre Sorten wie Vanille-, Schoko- oder Erdbeereis sind dabei für Ihre Kinder absolutes Tabu. Stattdessen dürfen sie eine unbegrenzte Anzahl an Kugeln von Sorten wie Rosmarin-Lavendel, Tomate-Basilikum, Himbeer-Balsamico und für Fortgeschrittene Räucherlachs oder Meerrettich auswählen. Wenn Ihre Kinder gelernt haben, sich bei diesen geschmacklichen Verirrungen nicht zu übergeben, werden sie als Erwachsene ohne mit der Wimper zu zucken asiatische Schwalbennestsuppe und sardischen Madenkäse essen und dabei wichtige geschäftliche Abschlüsse tätigen (zum Beispiel die Übernahme einer Eismanufaktur, die sich auf Gänseleber- und Ochsenzungen-Eis spezialisiert hat).
Lektion 4: Mit der Arschbombe in den Chefsessel springen
Menschen, die eine erfolgreiche berufliche Karriere hinlegen, verfügen über eine ganz besondere Fähigkeit: Sie können sich gut verkaufen. Und das häufig bei totaler inhaltlicher Ahnungslosigkeit, denn sie sind ganz hervorragende Poser. So sorgen sie dafür, dass sie bei Beförderungen und Gehaltserhöhungen nie übersehen werden, bis sie selbst irgendwann Chef sind. (Wodurch ultimativ sichergestellt ist, dass sie bei Gehaltserhöhungen nicht übersehen werden.)
Die Sommerferien sind die beste Zeit für Ihre Kinder, diese Kompetenz des Posens zu erlernen. Gehen Sie dazu mit Ihren Kindern täglich ins Freibad, wo diese die Perfektionierung einer Arschbombe trainieren müssen. Die Arschbombe ist nämlich das ultimative Poser Instrument: Durch lautes Platschen erzielt man maximale Aufmerksamkeit, im Umkreis von 30 Metern bekommen es alle mit, weil sie nassgespritzt werden, und besonders viel können muss man dazu auch nicht. Außer mit dem Arsch voran in ein Schwimmbecken hüpfen, was wahrlich nicht die intellektuellen Fähigkeiten eines promovierten Altphilologen erfordert.
Nachdem Ihre Kinder über Jahre hinweg in den Sommerferien ihre Arschbomben perfektioniert haben, verfügen sie über die Poser-Disposition, die ihnen eine glänzende Karriere in einem internationalen Konzern ermöglicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass DAX-Vorstände nicht fachlich brillieren, sondern einfach die besten Arschbomber in ihrem Unternehmen sind. Das können eines Tages Ihre Kinder sein!
Lektion 5: Langeweile durch Handyverbot ertragen
Im Beruf muss man häufig stumpfsinnige Aufgaben erledigen, an inhaltsleeren Besprechungen teilnehmen und ausschweifende sinnfreie Motivationsansprachen des Chefs über sich ergehen lassen. Für berufliches Vorankommen ist es daher immens wichtig, Langeweile ertragen zu können.
Die sechswöchigen Sommerferien bieten genügend Zeit, damit Ihre Kinder lernen, sich zu langweilen. Verzichten Sie im Urlaub auf jegliche außergewöhnlichen Freizeitaktivitäten, sondern verbringen Sie tagein tagaus mit Ihren Kindern am Strand, am Badesee oder am Hotel-Pool. Damit ersparen Sie sich nicht nur langwierige Recherchen über lokale Touristenattraktionen, sondern entlasten auch die Urlaubskasse, so dass Sie sich zusätzlich eine Woche in einem 5-Sterne-Wellness-Hotel leisten können. (Allerdings ohne Ihre Kinder, was den Erholungsfaktor erheblich erhöhen wird.)
Im fortgeschrittenen Langeweile-Kurs können Sie noch einen Schritt weitergehen und Ihren Kindern in der letzten Ferienwoche die Benutzung von Smartphones, Tablets und Fernsehgeräten verbieten (Vorausgesetzt, sie haben die YouTube-Binge-Watchling-Lektion erfolgreich absolviert.), damit sie mit der ultimativen Langeweile konfrontiert werden. (Dadurch lernen Sie dann ebenfalls etwas, nämlich den Hass Ihrer Kinder zu ertragen.)
Haben Ihre Kinder diese Langeweile-Tortur überstanden, steht einer glänzenden Karriere im gehobenen Managements eines börsennotierten Konzerns nichts im Wege. Und für das neue Schuljahr nach den Sommerferien sind sie ebenfalls bestens vorbereitet.
Weitere Kolumnen von Christian Hanne hier im ELTERN! Magazin:
Kolumne von Eltern für Eltern
Im Wechsel schreiben Blogger und Journalisten über Themen, die Eltern bewegen. Lesen Sie hier Geschichten und Beispiele aus der wunderbar chaotischen Welt des Lernens und Lebens. Alle Kolumnen ansehen.
Über den Autor
Christian Hanne, Jahrgang 1975, ist im Westerwald aufgewachsen und hat als Kind zu viel von Ephraim Kishon gelesen und zu viel ‘Nackte Kanone’ geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und ihren beiden Kindern in Berlin-Moabit. Auf seinem Blog ‘Familienbetrieb’, auf Twitter und Facebook schreibt er über den ganz normalen Alltagswahnsinn. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September ist sein Buch “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith” im Seitenstraßenverlag erschienen. In zwölf gar nicht mal so kurzen Kurzgeschichten sinniert er darüber, wie Schwangerschaft, Marathongeburten und nachtaktive Babys eine moderne, gleichberechtigte Partnerschaft auf die Probe stellen.
Im Netz:
Kolumne von Christian Hanne, Blog Familienbetrieb
Am Karneval beziehungsweise Fasching scheiden sich die Geister: entweder man liebt ihn und fiebert vorfreudig dem Februar mit seinen Umzügen und Prunksitzungen entgegen, oder man fragt sich mit Befremden, warum sich erwachsene Menschen alberne Kostüme anziehen, über unlustige Büttenreden lachen und zu gruseligen Liedern schunkeln.
Als Eltern sollten wir aber unbedingt dankbar sein für die fünfte Jahreszeit, denn sie ist – und das mag Sie verwundern – ein Quell der modernen Pädagogik. Fasching fördert nicht nur die kindliche Kreativität und Phantasie und trainiert die Sprachkompetenz, sondern lehrt darüber hinaus sowohl Teamfähigkeit als auch Führungsqualitäten. Deshalb lege ich Ihnen wirklich folgendes ans Herz: Besuchen Sie mit Ihren Kindern so häufig wie möglich Faschingsumzüge und Karnevalssitzungen! Auch wenn das für Sie nach einem hohen Preis klingen mag, für die sprachliche, mentale und charakterliche Entwicklung Ihres Kindes ist es kein allzu hoher. Wie genau das funktioniert, erfahren Sie im folgenden 6-Punkteplan.
1: Persönlichkeitsentwicklung durch Kinder-Faschingskostüme
Alle Kinder lieben den Fasching, denn er bietet die Möglichkeit, sich als Polizist, Prinzessin, Clown oder Superheld zu verkleiden. Diesen Verwandlungswillen sollten Sie unbedingt fördern und – auch wenn nicht ganz billig – Ihrem Nachwuchs jedes Jahr mehrere Kostüme kaufen. Denn das Verkleiden hat nämlich eine stark charakterbildende Funktion. Ich bin beispielsweise davon überzeugt, dass meine sehr komplexe Persönlichkeit auf meine sehr unterschiedlichen Kinderfaschingskostüme zurückzuführen ist. Als Musketier habe ich beispielsweise gelernt für andere einzustehen, der Schneemann hat mir stoische Gelassenheit beigebracht und seit ich mich in der Grundschule einmal als Blume verkleiden musste, weiß ich, mit Spott und Hohn umzugehen.
2: Deutschnachhilfe durch Büttenreden
Der Karneval bietet vielfältige germanistische Fortbildungsmöglichkeiten für Ihr Kind. Schauen Sie sich gemeinsam jede Karnevalssendung im Fernsehen an, damit Ihr Kind in den Genuss möglichst vieler Büttenreden kommt. Am Ende einer vierstündigen TV-Show beherrscht es den Paarreim und die Bestimmung eines einfältigen Versmaß wie im Schlaf, ist mit dem politischen Witz auf niedrigstem Niveau vertraut, und weiß, dass einfache Botschaften am wirkungsvollsten durch einfache Reime transportiert werden (“Wenn’s vorne juckt und hinten beißt, hilft Klosterfrau-Melissengeist.”). Das intensive Büttenredenstudium macht Ihr Kind vielleicht noch nicht zum Dichter und Denker, für eine Drei bei der nächsten Gedichtinterpretation sollte es aber reichen.
3: Fremdsprachenkompetenz durch kölsches Liedgut
In einer globalisierten Welt ist es essenziell, Fremdsprachen zu beherrschen. Und diese lernt man am besten im Kindesalter. Daher sollten Sie Ihren Nachwuchs schon in jungen Jahren ausgiebig mit kölschen Karnevalsliedern beschallen. Wenn Ihr Kind erstmal versteht, dass “Superjeilezick” kein Ziegenkind bejubelt, und “Fastelovend sin mer widder da” nichts mit der sündigen Beinaheliebe zu einem Schafbock zu tun hat, dann stellt das Erlernen von Mandarin, Kantonesisch oder Afrikaans kein großes Problem mehr da.
4: Teamfähigkeit durch gemeinschaftliches Schunkeln
Im modernen Berufsleben sind Teamplayer gefragt, die sich mit Kolleginnen und Kollegen abstimmen und gemeinsam erfolgreich Projekte umsetzen. Darauf können Sie Ihr Kind im Fasching bestens durch Schunkeln vorbereiten. Dabei macht es wichtige Erfahrungen, dass man sich in der Gruppe auf eine Richtung und Geschwindigkeit einigen muss und dass der Erfolg des Projekts gefährdet wird, wenn sich auch nur ein einziges Mitglied in der Gruppe nicht an die Absprachen hält. Außerdem lernt es frühzeitig, dass man im Berufsleben häufig vollkommen sinnfreie Dinge tut, die niemand hinterfragt.
5: Führungsqualitäten durch Polonaise
Wenn Sie möchten, dass Ihr Kind nicht nur als Mitläufer mitschunkelt, sondern für das spätere Leben lernt, auch mal die Führung zu übernehmen, ist eine Polonaise genau das Richtige: Wer an der Spitze der Polonaise steht, trägt Verantwortung, gibt die Richtung vor und wählt die optimale Geschwindigkeit aus, bei der es vorangeht – aber auch alle mitkommen. Allerdings müssen Sie sich auf knifflige Fragen vorbereiten, wenn Sie Ihr Kind ins Polonaise-Bootcamp schicken. Wie können Löcher aus dem Käse fliegen, wo liegen Blankenese und Wuppertal und warum fasst Erwin andauernd der armen Heidi von hinten an die Schultern?
6: Alkoholerziehung durch abschreckende Beispiele
Da das Kind gut und gerne am Modell lernt, liegt der unschätzbare Wert des Faschings aber vor allem darin, Ihre Kinder frühzeitig über die schädliche Wirkung von Alkohol aufzuklären. Schon der Mainzer Karnevalist Arthur Becker warnte davor, dass der übermäßige Genuss von Wein und Bier die Stabilität von Gebäuden beeinträchtigt (“Und da wackelt der Dom”). Bei Willi Millowitsch führt der maßlose Konsum von hochprozentigen Getränken gar direkt ins Jenseits (“Schnaps das war sein letztes Wort, dann trugen ihn die Englein fort.”). Und wenn Ihre Kinder erstmal auf einer Karnevalssitzung sehen, wie Onkel Horst volltrunken jungen Frauen nachstellt und Tante Gisela im Rausch auf Tischen und Bänken tanzt, werden sie mindestens bis zur Volljährigkeit die Finger vom Alkohol lassen.
Fasching mit Kindern, auf keinen Fall?
Sollten Sie mit Karneval und Fasching aber so gar nichts anfangen können, dann bringen Sie Ihren Kindern wenigstens bei, dass es ein Merkmal toleranter Gesellschaften ist, das kulturelle Brauchtum von Minderheiten zu ertragen. Die wollen nur spielen!
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Über den Autor
Christian Hanne, Jahrgang 1975, ist im Westerwald aufgewachsen und hat als Kind zu viel von Ephraim Kishon gelesen und zu viel ‘Nackte Kanone’ geschaut. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Berlin-Moabit. Auf seinem Blog ‘Familienbetrieb’, auf Twitter und Facebook schreibt er über den ganz normalen Alltagswahnsinn. Kulinarisch pflegt er eine obsessive Leidenschaft für Käsekuchen. Sogar mit Rosinen. Ansonsten ist er mental einigermaßen stabil.
Im September ist sein Buch “Wenn’s ein Junge wird, nennen wir ihn Judith” im Seitenstraßenverlag erschienen. In zwölf gar nicht mal so kurzen Kurzgeschichten schreibt er darüber, wie Schwangerschaft, Marathongeburten und nachtaktive Babys eine moderne, gleichberechtigte Partnerschaft auf die Probe stellen.
Kolumne von Eltern für Eltern
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16.06.2015, Kolumne “Die Elternflüsterer” von Christian Füller
Neulich hatte ich ein komisches Erlebnis. Ich wollte mit der Kreditkarte bezahlen. Kinderleicht per Pin. Nur murmelte die Kassiererin plötzlich: Sie müssen unterschreiben. Ich war gerade mit den Gedanken ganz woanders. Und signierte fix. “Das ist nicht Ihre”, brummte die Frau. “Bitte nochmal!” Ich wiederholte und scheiterte wieder. Ich versuchte es langsam. Das sah zwar sehr schön aus – aber leider anders als auf der Kreditkarte. Die Kassiererin trommelte mit den Fingern, die Schlange hinter mir grummelte – und ich fühlte mich plötzlich sehr verloren. “Du kannst Deine eigene Unterschrift nicht mehr!”
Das Schreibenlernen freizugeben, ist verantwortungslos
Meine Co-Kolumnistin Béa will das Schreibenlernen frei geben, und ich finde das falsch. Nicht nur wegen meiner Kreditkarte.
So sympathisch und wichtig das freie Probieren und Begreifen für lernende Kinder auch ist, das Erlernen der Schrift ist der fundamentalste aller Lernvorgänge – er findet angeleitet in der Schule statt. Und durch uns selbst. So entwickeln wir aus Anleitung plus Bewegung unsere „eigene Handschrift“. Dieser scheinbar so flüssige Schreibschwung, über den wir nicht mehr nachdenken, weil wir ihn längst automatisiert haben, steckt voller komplexer Komponenten. Sie machen unsere Schrift aus – und auch uns als Person.
Es geht – mehr noch als beim Lesen – um Literalität, also die Fähigkeit zur aktiven Teilhabe an der Schriftkultur. Zugleich steckt Handwerk und Ästhetik im Erlernen einer Schrift. Schreiben ist eine bedeutsame feinmotorische Bewegung. Selbst das vermaledeite Üben ist wichtiger Teil des Schreibenlernens. “Anmut sparet nicht noch Mühe”, dichtete Brecht, und ich kenne wenige Fertigkeiten, für die das gilt wie für die Schrift.
Kurz gesagt: Dass sich Schulkinder das Schreiben selber beibringen sollen, ist total gaga! Die Kapitulation von Schule. Eine – verzeih` Béa – ziemliche Verantwortungslosigkeit vor allem gegenüber Kindern, die nicht bei Architekten und Schulgründern aufwachsen.
Kinder feiern es als Eroberung, flüssig schreiben zu können
Wir reden hier übrigens nicht von der Druckschrift. Damit sollen Kinder ab 3 Jahren anfangen zu experimentieren. Da bin ich bei Béa. Ich spreche von einer flüssigen, verbundenen und lesbaren Schreibschrift, die im Kern unsere Fähigkeit ausmacht, uns mitzuteilen. “Seine Handschrift”, sagt man, wenn jemand einer Disziplin seinen Stempel aufdrückt. Durch besondere, eigenwillige Könnerschaft.
“Gebt die Schrift frei”, deklamiert Béa, und ich sehe sie, wie sie auf die Barrikaden der Schreibrevolutionäre tritt. Und die Füller zerbricht. 😉 Gerade so, als sei das Schreiben ein Akt der Unterdrückung. Was für ein Missverständnis! Dürfen wir wirklich das Beispiel eines zum Schlagwerkzeug umfunktionierten Holzlineals, erlitten vor vielen Jahren in Rumänien, als Grund für die Abschaffung des Schreibunterrichts nehmen? Es stimmt, die Methoden des Schönschreiblernens, sie waren nicht immer vergnügungssteuerpflichtig. Aber, pardon, Kujonierung ist das nicht, heute schon gar nicht mehr. Im Gegenteil: Kinder feiern es als Eroberung, flüssig schreiben zu können.
Nicht jeder Sechsjährige kann die Schrift neu erfinden
Gebt die Schrift frei, das Klavierspiel, das Schwimmen, das Fallschirmspringen, man könnte die Aufzählung fortsetzen. Aber: Es gibt Fertigkeiten, da empfiehlt es, sich mit Könnern zu üben. Sie von einem guten Lehrer zu lernen. Ich erinnere meine Grundschullehrerin Frau Büchs fürs Schreiben, das Mathe-Erklär-Genie Herrn Miltner für Zahlen, einen Fußball-Trainer für den Hackentrick, meinen Großvater, der mich mit drei aufs Fahrrad setzte. Und und und.
So ist es bei der verbundenen Schrift. Jeder findet seine individuelle Handschrift, aber er kann doch, bitte, nicht als Sechsjähriger die Schrift neu erfinden. Was muten wir unseren Kindern da zu?!
Schrift ist nicht nur persönlich, sie ist zur Verständigung so bedeutsam wie zur Gewinnung von Individualität. Schreiben ist Ich und Wir. Wir können also unser gemeinsames Zeichensystem nicht in Kinderhände übergeben. Es kann sich nicht jeder seine Schrift aussuchen. Kinder suchen sich auch ihre Muttersprache nicht aus. Das geht übrigens gerade dann nicht, wenn wir in einer digitalen Gesellschaft leben, in der man nicht mehr schreibt, sondern vor allem tippt.
Was passiert, wenn das kleine Tippgerät ausfällt, und sei es noch so smart, kann man Jugendlichen besonders schön auf Campingplätzen anmerken: Sie sind verloren, entkoppelt, allein. Sie flippen aus – weil sie sich nicht mehr mitteilen können.
Es geht ihnen wie dem armen Kerl, dessen Unterschrift für die Kreditkarte nicht mehr identifizierbar ist.
Eine Kolumne von scoyo-Elternflüsterer Christian Füller
Über Christian Füller
Christian Füller ist Journalist (u.a. FAS, Spiegel Online und Freitag) und Autor diverser Bücher über gute Schule und neues Lernen. Er hat sich dabei auch mit Eltern auseinandergesetzt. In „Ausweg Privatschulen“ (2010) gibt er Hinweise, welche private Schule sich lohnen könnte. In „Die Gute Schule“ (2009) analysiert er, warum Eltern so wahnsinnig wichtig fürs Lernen sind. Füller hat mit Jesper Juul über Eltern gestritten, die ihre Kinder immerzu nach ihrem Befinden befragen. Er hat bei Spiegel Online als ihr wichtigstes Prinzip „my kind first“ ausgemacht. Füller hat selbst zwei Kinder und hassliebt es immer noch, Elternvertreter zu sein.
Twitter: @ciffi | twitter.com/ciffi
Die Kolumne “Die Elternflüsterer”
Im Wechsel flüstern der Journalist Christian Füller und Bildungsunternehmerin Béa Beste den Eltern Geschichten und Beispiele aus der wunderbar chaotischen Welt des Lernens und Lebens ins Ohr.
28.07.2015, Kolumne von Béa Beste und Daniel Bialecki
Sommercamps, Musikschulen, Sportwettkämpfe, Tagesausflüge in Museen und Zoos, Austauschprogramme, Sprachschulen, Kinderferienprogramme … Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, wie Kinder sinnvoll die Sommerferien nutzen können und ein Großteil der Zeit beschäftigt sind.
Doch ist der Sinn von Ferien nicht eigentlich der, dass es keinen gibt?
Wenn Kinder sich langweilen, sind sie gezwungen, Verantwortung für ihre Zeit zu übernehmen und sich selbst Aktivitäten zu suchen, die sie interessieren – und dabei sollten Computer- und Handyspiele nur eine kleine Rolle spielen. So haben Kinder die Chance, ihre wahren Interessen kennen zu lernen, Talente zu entdecken.
Natürlich gibt es viele gute Freizeitbeschäftigungen, Hobbies, die Kindern Spaß machen, Ausflüge, die die Familie zusammenschweißen. Das sollte keineswegs alles gecancelt werden. Es geht es darum, die Kinder nicht zu überfördern, darum, den Stundenplan nicht auch auf die Ferien zu übertragen. Oder wollen wir Eltern uns den wohl verdienten Urlaub mit Terminen vollpacken?
Hier haben wir unsere schönsten Lernerlebnisse für den Sommer zusammengetrommelt! Dabei haben wir uns auch daran erinnert, was wir gern als Kinder gemacht haben, aber auch darüber nachgedacht, was unseren eigenen Kindern gut tut.
Top 10 Hausaufgaben für den Sommer
1. Mit Freunden eine Gegend erkunden, bis ins kleinste Detail …
Einmal verstehen, was so auf einem Quadrakilometer unserer Erde los ist: egal ob am Strand, im Wald, Garten oder in der Stadt. Am besten mit Lupe, Smartphone und Kamera losziehen und schauen, was man so entdeckt: Getier? Natur? Kultur? Schätze? Wichtig: Irgendwie festhalten.
2. … auch nachts: Mit den Eltern einen Nachtspaziergang machen
Bloß nicht alleine! Aber mit den Eltern und Taschenlampe im Gepäck ist eine Nachterkundung genial. Und wenn es etwas länger dauert – nicht schlimm! In den Ferien kann man ausschlafen.
3. Mindestens 10 Arten finden, wie man ins Wasser plantschen kann
Arschbombe und Köpper sind nicht alles! Und die Leiter ist langweilig … Egal ob im See oder Freibad: Wie kommt man eigentlich am Kreativsten ins kühle Nass? Das sind wichtige physikalische Gesetze, die es da zu erforschen gibt.
4. Kirschen, Erdbeeren und anderes Obst ernten. Und auf der Stelle futtern
Es gibt Bauern, die das anbieten: Auf keinen Fall verpassen. Der Duft und der Geschmack von frisch gepflücktem Obst ist eine Erinnerung fürs Leben.
5. Ins Zeltlager fahren
Nirgends lernt man so viel übers Draußensein, in Gruppen sein, eine Gemeinschaft zu organisieren, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Und zum ersten Mal so richtig verlieben kann man sich auch.
6. Die Kinder kochen lassen
Und Kochen fängt mit den Einkaufen an! Mit den Kindern ein Budget absprechen, gemeinsam planen und sie dann losschicken. In der Küche je nach Alter dabei sein, aber am besten unauffällig am Rand, und nur einschreiten, wenn es wirklich gewünscht ist oder gefährlich wird. Nicht vergessen: Uns fällt auch mal was runter, putzen kann man später. Und: Auch unseren Kindern schmeckt nicht immer alles, was wir ihnen vorsetzen. 🙂
7. Eine Kanutour machen
Irgendein Fluss ist immer in der Nähe und meistens kann man darauf auch paddeln gehen. Das macht richtig Spaß – mit Übernachtung sogar noch mehr. Man sieht den Fluss aus einer ganz anderen Perspektive, lernt viele Tiere kennen, probiert, nur das Nötigste mitzunehmen und hat viel, viel Zeit für Themen, die einem sonst nicht so schnell in den Sinn kommen. Ach ja – ziemlich oft hat man kein Netz, ist also offline. Für Eltern manchmal fast schon eine spannendere Erfahrung als für Kinder.
8. Burgen und Festungen anschauen
Wenn es sich dabei um mehr als eine lose Ansammlung von (wenn auch sehr sehr alten) Steinen handelt, kann das sehr spannend sein – hier wird das Leben von damals schnell greifbar und mit wenig Fantasie sogar spürbar. Viele Burgen oder Ausgrabungstätten haben gutes Material für Kinder. Ich weiß heute noch ziemlich viel über Römer und Etrusker, weil wir oft im Italienurlaub Ausgrabungen angeschaut hatten, zusammen mit einem “Was ist Was Buch”. Auch ein Audioguide mit Geräuschen ist cool!
9. Mit Kindern spielen, die nicht die gleiche Sprache sprechen
In den Ferien ist alles einfacher, auch die Verständigung: Mit rudimentären Englischkenntnissen oder nur noch mit Händen, Füßen, Grunzlauten und Malen im Sand … Alles ist erlaubt, alles macht Spaß.
10. Pfützenfangen bei Regenwetter: Platsch Hurra!
Fangen spielen mit Aus-Feldern (die Pfützen). Wer in der Pfütze steht, ist sicher und darf nicht gefangen werden. In jeder Pfütze darf nur einer stehen. Gummistiefel sind hier empfehlenswert.
Ein paar Tipps, damit die Ferien zu einem bereichernden Erlebnis werden:
-
Die Bildschirmzeit sollte strikt begrenzt werden – je jünger die Kinder, desto kürzer die Zeit, die sie am Fernseher oder Laptop verbringen. Hier eine genaue Empfehlung zu geben, ist schwierig. Jedes Kind ist unterschiedlich und nutzt die digitalen Geräte für verschiedene Dinge. Sind sie produktiv und “daddeln” nicht nur, können Sie die Bildschirmzeit verlängern. Beispiele: Dokus, englische Serien, Sendung mit der Maus etc. im Fernsehen schauen, Lernen, Geschichten schreiben, Website programmieren, Bilder gestalten am Computer/Tablet …
- Klare Regeln setzen: Das Handy ist für den Nachwuchs ab einem bestimmten Alter wichtig, um mit Freunden zu kommunizieren. Das sollten Sie also nicht einfach wegnehmen, sondern Regeln festlegen. Hier hilft ein Eltern-Kind-Vertrag.
- Soziale Kontakte pflegen: Bestärken Sie Ihre Kinder darin, sich mit Freunden zu treffen oder neue kennen zu lernen.
- Mitspracherecht: Beziehen Sie Ihre Kinder in Freizeit-Aktivitäten und Urlaubsplanungen mit ein und übertragen sie auch mal die Aufgabe, kleinere Ausflüge, die sie selbst gern machen möchten, zu organisieren. Das fördert die Selbstständigkeit und das Selbstbewusstsein der Kleinen.
- Bereiten Sie ein paar Anregungen für die Kleinen vor – nichts zu planen, bedeutet nicht, alles komplett stillzulegen (dafür haben wir weiter unten in diesem Artikel ein paar Vorschläge).
Und wie ist das mit dem Lernen in den Ferien?
Ganz klar: Nur im Notfall mit dem Schulbuch, etwa wenn große Lücken entstanden sind. Hilfe von Experten ist dann die beste Wahl, um die Eltern-Kind-Beziehung nicht ins Wanken zu bringen.
Ansonsten gilt: Lernen geht immer, doch besonders in den Ferien sollten Kinder andere Methoden ausprobieren dürfen. Nichts spricht dagegen, zum Ende der Ferien Vokabeln mit bunten Karteikarten zu wiederholen, Lernspiele auszuprobieren oder das 1×1 durchzugehen. Solange das in einem begrenzten Zeitraum geschieht.
►Spielerisch für die Schule lernen: Mit der mehrfach ausgezeichneten Online-Lernplattform scoyo können Kinder selbstständig und spielerisch den Schulstoff vertiefen – und sich so ohne Druck in den wichtigsten Fächern verbessern.
Lernen bedeutet viel mehr, als nur den Schulstoff zu wiederholen. Ein gutes Beispiel ist ein Facebook-Post von dem italienischen Lehrer Cesare Catà, der gerade die Runde im Netz gemacht hat. Er sträubte sich dagegen, seinen Schützlingen, wie in Italien üblich, viele Hausaufgaben für die Ferien mitzugeben, und dachte sich 15 andere Aufgaben für den Sommer aus, darunter:
“Tanzt. Ohne Scham. Auf der Tanzfläche neben den Boxen oder alleine in eurem Zimmer. Der Sommer ist ein Tanz und es wäre albern, nicht mitzutanzen.”
Und auch wir sind uns einig: Grundschüler sollten viel mehr spielen, um zu lernen!
Wissensdurst noch nicht gestillt? Im #scoyolo-Podcast dreht sich alles um „Lernen mit Leichtigkeit” – voller Anregungen, Tipps und alle zwei Wochen neu! Jetzt gleich reinhören:
Die Autoren
Béa Beste, Bildungsunternehmerin
Bildungsunternehmerin
© Béa Beste
Im Zukunftsdialog der Bundeskanzlerin plädierte Bildungsunternehmerin Béa Beste als Expertin im Bereich „Wie wollen wir lernen?“ für eine Lernkultur der Potenzialentfaltung und mehr Heiterkeit in der Bildung. Béa gründete 2006 die bilingualen Phorms Schulen, einige Jahre später die monatlich erscheinende Tollabox mit Materialien und Bastel-Ideen für Familien mit Kindern ab drei Jahren. Die Mutter einer erwachsenen Tochter führt den Kreativ-Blog der Tollabox als ‘Tollabea’ weiter.
Daniel Bialecki, Geschäftsführer von scoyo
Daniel Bialecki
© scoyo
Der gelernte Diplom-Ingenieur Daniel Bialecki ist seit 13 Jahren im Bereich der digitalen Wissensvermittlung tätig. Auch, weil er selbst dreifacher Vater ist, beschäftigt den 43-Jährigen vor allem, mit welchen Methoden bzw. Mitteln man unseren Kindern den Spaß am Lernen erhalten kann. Gemeinsam mit Pädagogen und renommierten Geschichtenentwicklern baute er von 2007 bis 2009 die virtuelle Lernumgebung von scoyo auf.
17.03.2016, Kolumne von Béa Beste.
Leben ist …
… 10% was dir passiert,
90% wie du darauf reagierst.
Neues Halbjahr, neues Glück – oft hoffen Eltern, dass das Halbjahreszeugnis wieder gerade gebogen und am Ende alles gut wird … Jetzt werden Nachhilfe reingepumpt und neue Vorhaben für Hausaufgaben und Co. auf den Plan gepackt. Aber schauen wir eigentlich weit genug? Geht es nur um die Qualifikationsnachweise – oder um das Potenzial unserer Kinder?
Unsere Kinder müssen darauf vorbereitet sein, dass sie in Zukunft in Berufen arbeiten werden, die heute noch nicht existieren. Dass sie mit einer Welt konfrontiert sein werden, die sich noch schneller dreht und wandelt als heute. Es wird immer weniger darum gehen, was für genaue Kenntnisse ein Mensch hat – und vielmehr darum, welche Fähigkeiten in welchem Tempo er aktivieren kann.
Aus meiner Perspektive als Schulgründerin sind hier einige sogenannte Life Skills, die Eltern – viel mehr als die Schule – sehr gut fördern können, sogar mit wenig Aufwand:
1. Ein solides Ich-Gefühl mit einem feinfühligen Wir-Gefühl verbinden
Die Balance von Selbstbewusstsein und Empathie fällt sogar vielen Erwachsenen schwer. Je geliebter ein Kind aufwächst und eine Mischung aus positiver Bestätigung und liebevollem Ansporn erlebt, umso mehr bildet sich genau diese Balance.
Ich habe bei meiner Tochter auch stets ganz bewusst in der Erziehung einen sehr großen Wert darauf gelegt, dass sie ein Verständnis für ihr ganz eigenes Recht auf Unversehrtheit entwickelt. Dazu gehört der Verzicht auf Gewalt – physische und psychische – und ganz viel liebevolle Kommunikation, egal in welcher Lebenslage. Ich habe ihr auch früh erzählt, dass niemand ihr Gewalt antun darf, und ich habe sie auch dazu erzogen, für die Schwächeren einzustehen und Zivilcourage zu zeigen.
Dazu gehört aber auch, für sich als Elternteil klare Grenzen zu setzen und konsequent zu bleiben. Kinder lernen durch Beispiele – und Eltern helfen ihnen zu einem gesunden Ich-Gefühl, indem sie sich selbst Gutes tun, es für sich einfordern und gleichzeitig auf den Gegenüber eingehen.
Ein konkretes Beispiel: Ich habe sehr oft Deals mit meiner Tochter “ausgehandelt” – auch wenn sie klein war: Zum Beispiel eine Stunde mit ihren Puppen mitspielen (ich war nie ein Fan von Puppenspielen) gegen eine Stunde ausschlafen am Wochenende. So können auch ganz junge Kinder lernen, die eigenen Bedürfnisse und die der anderen ins Verhältnis zu setzen und erfahren, dass andere Menschen andere Bedürfnisse haben.
2. Ein Gespür für Zeit
Wir hetzen unsere Kinder von Termin zu Termin, setzen ihnen durchgetaktete Stundenpläne vor. Haben diese Kinder die Chance, Zeit auch selbst einzuteilen, Pläne zu schmieden und sie umzusetzen? Es gibt so viele Gelegenheiten, in denen man mit den Kindern Zeit betrachten und einteilen kann – an freien Wochenenden, während den Ferien, wenn man Familienfeiern plant.
Meine Tochter hat, bis sie Teenie wurde, immer die Verantwortung über einen halben oder einen ganzen Tag am Wochenende bekommen und durfte entscheiden, was wir machen: Mal hat sie das zu voll gepackt, mal haben wir einfach nur auf dem Teppich gesessen und gespielt. Es tut einfach gut, mal Herr seiner Zeit zu sein.
Ich habe auch mit ihr geübt, wie man sich bei Tests verhält und die Zeit im Blick hat: Mit leichteren Aufgaben anfangen, sich danach den kniffeligeren widmen. Hier können Spiele wie Pictionary ein sehr gutes Gefühl dafür vermitteln, wie man mit Zeit in Stresssituationen umgeht – und überhaut sind Gesellschaftsspiele großartige Gelegenheiten für das Lernen von Life Skills im Schutzraum der Familie und Freunde.
3. Neugier auf Unbekanntes und Neues – die “Au ja” Einstellung
Wandel bestimmt unsere Zeit, alles wird immer in kürzerer Zeit anders. Was für eine Einstellung haben wir selbst gegenüber dem Neuen, dem Unbekannten? Können wir eine Au ja!-Einstellung prägen? Ob Gäste vor der Tür stehen oder wir mit einem anderen Verkehrsmittel fahren müssen als geplant, wenn wir selbst als Eltern mit Mut zum Abenteuer und Offenheit zur Improvisation reagieren, wird unser Kind eine solche Einstellung mitbekommen.
4. Dankbarkeit für Langeweile
Das ist ein ganz großes Thema! Nein, wir sind nicht “zwangsbastelnde Alleinunterhalter mit Müdigkeitshintergrund” – sondern wir müssen es als Eltern auch mal aushalten, dass die Kinder über Langeweile klagen. Daraus können wunderbare Spiele entstehen – wenn wir unseren Kindern vermitteln, dass Langeweile ein Quell für Ideen ist. Also: Nicht immer neue Angebote machen, sondern geduldig zum Kind dazu gesellen und abwarten. Und immer wieder lächelnd sagen, was für ein Segen Langeweile ist. Den Kids fällt dann schon was ein. Dauert nicht lange.
Wie früh lernt Ihr Kind mitzukochen, im Haushalt zu helfen oder sich auf der Straße zu orientieren? Kann es noch vor der Schule eine kleine Wunde selbst mit einem Pflaster versorgen? Würde es neben einem vollen Kühlschrank verhungern? Sehr oft sind Eltern zu beschäftigt und zu sehr im Stress, als das sie Kinder in den Handlungen des täglichen Lebens einbinden und mitmachen lassen – dabei ist das Können, für sich selbst im Notfall zu sorgen, etwas, was unglaublich stark macht.
6. Medien verstehen
Die vielzitierte Medienkompetenz! Ja, wir kommen nicht mehr drumherum. Das ist ein Thema, worüber man stundenlang diskutieren kann. Mein Rezept ist ganz einfach: Kinder nicht den Medien überlassen, sondern mit ihnen entdecken, erforschen, verstehen. Eltern und Lehrer sind hier nicht mehr die Anführer – sondern einfach Partner auf Augenhöhe, die nur ein kleines Plus an Lebenserfahrung haben, um Probleme und Gefahren gut einzuschätzen. Wir können nicht die Kinder medienkompetent machen. Wir können es nur gemeinsam werden.
7. Humor
Last but not least: Wer Humor beherrscht, hat es einfacher im Leben. In jeder Situation. Wir sind in Deutschland nicht gerade kulturell dazu prädestiniert – sondern eher im Gegenteil. Comedy-Autor Christian Eisert meint, dass man Humor einfacher als Mathe lernen können: Wenn man sich selbst fragt, warum man mache Dinge witzig findet, wenn man sie witzig findet, lernt man, wie Witzigsein funktioniert. Kinder lieben übrigens Comic-Bücher, und wenn man sich gemeinsam mit ihnen amüsiert, kann man genau darüber gut reden: Wer findet etwas witzig und warum.
Aber die reine Reflexion tut es nicht alleine. Humor kommt meistens davon, dass man eine Situation im Gesamtkontext betrachten kann und “über den Dingen steht”. Und das kommt meistens von einem stabilen Selbstwertgefühl – damit geht es wieder zu Punkt 1.
Es gibt mit Sicherheit noch mehr Lebens-Fähigkeiten, die ebenfalls auch sehr wichtig sind. Wenn ich etwas vergessen haben sollte, freue ich mich über neue Vorschläge in den Kommentaren!
Kolumne von Eltern für Eltern
Im Wechsel schreiben Blogger und Journalisten über Themen, die Eltern bewegen. Lesen Sie hier Geschichten und Beispiele aus der wunderbar chaotischen Welt des Lernens und Lebens. Alle Kolumnen ansehen.
Die beliebtesten Kolumnen von Béa:
Über Béa Beste
Béa Beste, Bildungsunternehmerin
Béa Beste ist Bildungsunternehmerin und Mutter einer großen Tochter, die sich schon im Studium befindet. Im Zukunftsdialog der Bundeskanzlerin plädierte Béa Beste als Expertin im Bereich „Wie wollen wir lernen?“ für eine Lernkultur der Potenzialentfaltung und mehr Heiterkeit in der Bildung. Béa gründete 2006 die bilingualen Phorms Schulen. Nach sechs Jahren als CEO ging sie 2011 auf Bildungsexpedition durch Indien, Australien, Indonesien und die USA. Inspiriert von internationalen Bildungsinnovationen entwickelte sie das Playducation Konzept: Was wäre, wenn sich Lernen wie Spielen anfühlt? Leider setzte sich das Produkt, die monatliche Tollabox mit Materialien und Ideen für Familien mit Kindern ab drei Jahren, nicht am Markt durch, sodass Béa derzeit neue Ideen entwickelt, um das Konzept digital umzusetzen. Sie führt den Kreativ-Blog der Tollabox als “Tollabea” weiter.
17.08.2015, Kolumne “Die Elternflüsterer” von Béa Beste
Gehören Sie auch zu den Eltern, die Computerspiele als tendenziell verdummend einschätzen, und die sich über die Baller- und Daddelsucht ihrer Kinder ärgern?
Oder gehören Sie einfach zu den Eltern, die das Ganze wie Süßigkeiten handhaben – nach dem Motto: “Nicht ganz gesund, aber machen wir’s nicht attraktiver, indem wir’s verbieten”?
Welcher Fraktion Sie auch angehören, glauben Sie mir, im Leben Ihres Kindes wird es früher oder später Computerspiele geben. Die gehen nicht mehr weg. Und egal, auf welchem Standpunkt Sie stehen, es gibt einen Trick, wie man der Sache einen guten und wertvollen Dreh verschaffen kann – für Ihr Kind:
Kinder und Computerspiele? Reden Sie darüber – mit Ihrem Kind!
Zeigen Sie Interesse am Computerspiel. Stellen Sie Fragen. Lassen Sie sich etwas erklären, beschreiben, vormachen. Sie sind ein blutiger Anfänger? Macht nichts. Ihr Kind erwartet kein Fachsimpeln, und vor allem erwartet es keine Voreingenommenheit. Sie müssen nicht mal so tun, als würden sie das alles sooo spannend finden, wenn es partout nicht so ist.
Bemühen Sie sich nur, nicht abwertend zu wirken, sondern demonstrieren sie lieber eine gesunde Neugier, indem sie fragen, wie das geht, wie man da gewinnt oder verliert, oder was das wirklich Spannende daran ist.
Reflektieren und Verbalisieren tut Ihrem Kind gut
Der Grund ist simpel. Jede Art von Spiel ist eigentlich ein Lernprozess: Der Spielende muss sich in eine meistens komplexe neue Umgebung zurechtfinden, neue Kommunikations- und Aktionsmechanismen entdecken und eigene Strategien entwickeln. In keinem Spiel, auch nicht im Computerspiel, geht es allein um “Ballern und Blink-Blink”.
Sobald Sie Fragen stellen, bringen Sie Ihr Kind dazu, das Ganze zu reflektieren und in eigene Worte zu fassen. Und das, liebe Eltern, ist ein pädagogisch wertvoller Prozess!
So einfach ist das. Und wenn Ihnen das Fragen doch nicht so simpel erscheint, flüstere ich Ihnen jetzt Fragen zu, die Sie stellen können, wenn es um Kinder und Computerspiele geht:
Ein gutes Gespräch über Computerspiele führen – das könnten Sie Ihr Kind fragen:
- Was gefällt dir an dem Spiel am besten?
- Was muss man können, um erfolgreich zu sein?
- Wann gewinnt man?
- Wann verliert man?
- Spielt man das Computerspiel allein oder mit mehreren Kindern?
- Bewunderst du jemanden, der das besser kann als du?
- Wer von deinen Freunden mag das auch?
- Worauf bist du stolz in diesem Computerspiel?
- Was würdest du gern noch können oder lernen?
- Gibt es Geheimtricks?
- Wo informierst du dich, wenn du nicht mehr weiter weißt?
- Weißt du, wer die Spielemacher sind? Sind das coole Socken?
Probieren Sie es aus – Sie werden erstaunt sein, wie viel Strategiegedanken und Kluges so ein kleiner Mensch von sich geben kann, und das gerade beim Thema Computerspiele, denn das ist nunmal das, was viele Kinder sehr interessiert.
Anmerkung der scoyo Redaktion: Wenn Sie mit Ihrem Kind darüber sprechen, wie lang es am Computer spielen darf, nutzen Sie doch unseren Eltern-Kind-Vertrag. Er ist zwar auf Smartphones ausgerichtet, aber sie können ihn ganz leicht anpassen. Wirken tut es ganz bestimmt!
Co-Elternflüsterer Christian Füller sieht das übrigens ganz anders als Béa Beste. Was er zum Thema Kinder und Computerspiele und wie Eltern damit umgehen sollten denkt, lesen Sie hier: Die Jungs in FiFa schlagen?
Über unsere Elternflüsterin Béa Beste
Béa Beste, Bildungsunternehmerin
Bildungsunternehmerin
© Béa Beste
Im Zukunftsdialog der Bundeskanzlerin plädierte Bildungsunternehmerin Béa Beste als Expertin im Bereich „Wie wollen wir lernen?“ für eine Lernkultur der Potenzialentfaltung und mehr Heiterkeit in der Bildung. Béa gründete 2006 die bilingualen Phorms Schulen, einige Jahre später die monatlich erscheinende Tollabox mit Materialien und Bastel-Ideen für Familien mit Kindern ab drei Jahren. Die Mutter einer erwachsenen Tochter führt den Kreativ-Blog der Tollabox als ‘Tollabea’ weiter.
Kolumne “Die Elternflüsterer”
Im Wechsel flüstern der Journalist Christian Füller und Bildungsunternehmerin Béa Beste den Eltern Geschichten und Beispiele aus der wunderbar chaotischen Welt des Lernens und Lebens ins Ohr.
29.10.2015, Kolumne von Sven Trautwein
Oh, dieses Kribbeln in der Bauchgegend. Wenn man etwas zum ersten Mal macht – als Eltern oder Kinder. Man weiß nicht, wohin die Reise geht, welche Erfahrungen man machen wird und welche Eindrücke auf einen warten. Es ist gut, dass dieses Kribbeln da ist. Es umgibt einen mit einer Art “Schutzhülle”. Man ist noch ein wenig vorsichtig, möchte lieber alles richtig machen. Man fühlt sich damit auf der richtigen Seite.
Es ist ein Gefühl des Loslassens, das einen in Atem hält, wenn man die Kinder das erste Mal alleine zu Hause lässt. Ich spreche hier nicht von einer Nacht oder x Stunden, sondern einer viertel oder halben Stunde, in der man noch schnell die vergessene Sahne aus dem Supermarkt holt oder einen wichtigen Brief zur Post bringt. Das Kribbeln übermannt einen, wenn man tschüs sagt und die Tür hinter sich schließt und es ist wieder da, wenn man vor der Haustür steht und den Schlüssel umdreht.
So ging es mir jedenfalls damit, als ich einmal die Jungs für knapp 20 Minuten das erste Mal zu Hause alleine ließ, weil ich noch unbedingt etwas zu Essen besorgen musste. Das war Ende des dritten Kindergartenjahres. Unaufgeregt war ich nicht.
An mein erstes Mal allein zu Haus habe ich keine Erinnerung mehr
Wann ich als Kind das erste Mal allein zu Hause blieb, kann ich gar nicht mehr sagen. Ich bin mir sicher, dass es zuerst ein kurzer Zeitrahmen war. Irgendwann war ich dann abends alleine. Und das war sehr ungewohnt. Aufregend und ein wenig angsteinflößend zugleich.
Da war es wieder, dieses Kribbeln, das ich heute auch noch immer kenne. Ich hatte mir im Fernsehen alleine einen Film angeschaut. Die Stille, die mich danach umgab, werde ich nicht vergessen. Irgendwo im Haus knarzte ein Balken. Ich machte schnell Licht überall an und habe so die Zeit überstanden.
Erste kleine Schritte
Wir dachten, dass ein paar Monate nach der Einschulung der richtige Zeitpunkt sei, mit den Kindern das Thema “allein zu Haus” zu besprechen. Es ging dabei um maximal eine halbe Stunde. Sie wussten, wie man uns telefonisch erreicht und konnten jederzeit bei den Nachbarn klingeln, wenn etwas sein sollte. Auch die Nachbarn setzten wir davon in Kenntnis, dass der Nachwuchs für eine halbe Stunde allein sein würde. Doch beim ersten Versuch machten wir die Rechnung ohne den Wirt, wie man so schön sagt. Beide Kinder wollten unbedingt mit zum Einkaufen.
Ob aus dem Grund, mehr Zeit mit mir zu verbringen oder aus Angst vor der Situation, allein zu Hause zu sein, weiß ich nicht genau. Ich kann mir aber sehr gut vorstellen, dass sie es ungewohnt fanden, dass niemand greifbar sein sollte. Das kannten sie bisher nicht. Immer war einer von uns Eltern in der Nähe.
Kevin allein zu Haus
Der Film, im Originaltitel “Home Alone”, kam 1990 in die Kinos. Als ich über diesen Artikel nachdachte, kam mir sofort der Film in den Kopf. Kevin wird zum Weihnachtsfest zu Hause vergessen. Die ganze Familie und seine vier Geschwister sind nicht da. Nun ist er der Mann im Haus und muss es gegen zwei Einbrecher verteidigen. Auf humorvolle und taktierende Art gelingt es ihm, die beiden Ganoven zu vertreiben.
Obwohl der Film eine Komödie ist und ich damals mit Sicherheit sehr viel darüber gelacht habe, ändert sich der persönliche Blickwinkel doch sehr, wenn man selbst Kinder hat. Vieles sieht man mit anderen Augen. Unterschwellig sehe ich die zu Hause gelassenen Kinder nicht nur Party machen und die Wohnung komplett mit Popcorn fluten, sondern auch wie sie mit Bratpfanne und Nudelholz bewaffnet etwaige Eindringlinge abwehren. Aber das ist nur mein Gedankenkino. Viel wichtiger sind die Pflichten, die wir als Eltern tatsächlich haben.
Die Aufsichtspflicht
Die Aufsichtspflicht besagt ganz grob, dass Eltern dafür zu sorgen haben, dass Kinder nicht zu Schaden kommen und auch keinen Schaden anrichten können. Erinnert man sich jetzt an Kevin allein zu Haus, treten die einen oder anderen Schweißperlen auf die Stirn.
Doch zum Erwachsenwerden gehört nun mal auch, den persönlichen Radius zu erweitern. Und das beinhaltet, das Thema “Kind allein zu Haus lassen”. Im Bürgerlichen Gesetzbuch heißt es sogar “Bei der Pflege und Erziehung berücksichtigen die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbstständigem verantwortungsbewusstem Handeln.”
Eine klare Alterseinstufung gibt es hier nicht. Als Eltern kennen wir unsere Kinder am besten und wissen, was wir ihnen zutrauen können. Mögliche Gefahrenquellen wie die Herdplatte oder die leicht zu öffnende Haustür kennt der Nachwuchs irgendwann und weiß, dass er dort alleine nicht zu hantieren hat.
Wenn die Kinder also so weit sind, sollte man es ruhig einmal ausprobieren, sie allein zu Hause zu lassen. Und gleichzeitig die Bedenken der Kleinen ernst nehmen.
Vertrauen
Elternsein hat mit Vertrauen zu tun. Vertrauen, dass die Kinder wissen, wie sie handeln müssen, falls sie in eine gefährliche Situation kommen. Vertrauen, dass sie wissen, wie sie uns Eltern oder Nachbarn erreichen können. Dann kann eigentlich nichts schiefgehen und alle werden aus dieser Erfahrung gestärkt herausgehen. Ob alleine Brötchen holen oder den Schulweg meistern, Elternsein hat mit Loslassen zu tun.
Bereiten wir unseren Kindern den Weg, gibt es auch keinen Grund für Schweißperlen. Das Kribbeln wird auf beiden Seiten noch ein wenig bleiben. Und das ist auch gut so.
Welche Erfahrungen haben Sie gemacht, als Sie das erste Mal Ihr Kind allein zu Hause gelassen haben? Wir freuen und über alle Meinungen und Anregungen unten in den Kommentaren.
Über Sven Trautwein
Sven Trautwein, selbstständiger Unternehmer und Eltern-Blogger
Das Informatikstudium konnte Sven Trautwein nicht begeistern, so machte er seinen Magister in Englischer und Deutscher Literaturwissenschaft. Neben der Universität baute er seine eigene Literaturplattform literature.de auf. Bis zur Geburt seiner Zwillinge konzentrierte er sich auf die Redaktionsarbeit und veröffentlichte mehrere Anthologien mit Kurzgeschichten von sich und anderen Autoren unter dem Titel ‘Netzgeschichten’.
Heute widmet er sich Vollzeit seinem Blog Zwillingswelten und hält Vorträge zu kindgerechten Apps und sicherem Bloggen. Seine Jungs sind inzwischen eingeschult, sodass bei ihm auch schulische Themen in den Vordergrund rücken.
Er findet es wichtig, Kinder behutsam im Bereich Digitalisierung zu begleiten und schätzt scoyos Ansatz, nicht nur Kinder auf ihrem Bildungsweg zu unterstützen, sondern auch Eltern hilfreich zur Seite zu stehen: “Die Mischung macht’s. Weg von reinen Nachhilfeplattformen, die mit erhobenem Zeigefinger daherkommen”.
Profile von Sven im Netz:
Unsere Kolumne – von Eltern für Eltern
Im Wechsel schreiben Blogger und Journalisten über Themen, die Eltern bewegen. Lesen Sie Geschichten und Beispiele aus der wunderbar chaotischen Welt des Lernens und Lebens. → Alle Kolumnen ansehen
05.02.2016, Kolumne von Kali Richter
Die Gänge hallen wider vom Getrappel vieler kleiner und ein paar großer Füße, an den Wänden hängen bunte Bilder, es duftet nach frischen Waffeln. Insgeheim hoffe ich, die sind für mich – und die anderen Eltern, die heute mit ihren Viereinhalb-Jährigen in die Hamburger Grundschule kommen müssen, um ihr Kind vorzustellen.
Vor etwas mehr als einem Monat kam der Brief, unangekündigt. “Ihr Kind kommt im Sommer 2017 in die Schule.” Oha. Natürlich war mir das auch schon vorher klar. Aber bis dato war Einschulung für mich ein fernes Ereignis irgendwann in der Zukunft. Doch hier stand es nun, schwarz auf weiß: Das kleine Wesen muss die ersten Schritte gehen, hinein in das System Schule. Schluck.
Ein Satz, den ich nie sagen wollte. Der aber einfach stimmt.
Oma und Opa, die Onkel und Tanten, all die Erwachsenen, die einen als Kind immer an den Schultern griffen, ein Stück von sich wegschoben und erstaunt ausriefen: “Du bist aber groß geworden” … Die habe ich damals oft verständnislos angeschaut – oder brav gelächelt und nur in Gedanken die Stirn gerunzelt. Dass sie aber Recht hatten mit ihrer verrückten Feststellung, das weiß ich erst, seit mein eigenes Baby plötzlich fast 1,20 Meter groß ist.
Der Knirps und ich werden herzlich vom Schulleiter begrüßt, der dem Kurzen einen Kreppklebestreifen mit seinem Namen auf das Hemd klebt. Im Sekretariat geben wir unsere Unterlagen ab, Geburtsurkunde und den ausgefüllte Fragebogen. Den Abschnitt zur Anmeldung für die Vorschule habe ich nicht ausgefüllt. “Bis wann muss ich mir das überlegen?”, frage ich die Mitarbeiterin zaghaft. Sechs Wochen Bedenkzeit bleiben mir noch.
Der Nachwuchs bringt viele kleine und große Fragen mit sich
Ein Kind zu haben, bedeutet sich in ein Labyrinth aus Entscheidungen zu begeben. Sich dort zurechtzufinden ist knifflig, vor allem beim ersten Sprössling. In der Schwangerschaft fängt es schon an: Brauche ich mehr als die Standard-Diagnostik? Wie und wo soll mein Kind auf die Welt kommen? Welche Hebamme soll mich begleiten? Wie soll das Kleine überhaupt heißen? Jede Entscheidung führt in eine bestimmte Richtung und in vielen Fällen ist es dann nicht mehr möglich oder kompliziert, später umzukehren. Heißt das Kind einmal Klaus-Heribert, lässt sich das schwer wieder ändern. Melde ich meinen Sohn in der Vorschule an, verlässt er die Kita und sein Platz dort wird neu vergeben. Kein Weg zurück.
Mein Kleiner betritt zum ersten Mal in seinem Leben ein Klassenzimmer. Die Lehrerin nimmt ihn an die Hand. Die Eltern müssen draußen warten. Ich hocke mich neben zwei andere Mütter. Mein Herz klopft. Es duftet immer noch nach Waffeln. Langsam dämmert mir, dass die nicht für uns bestimmt sind.
Welcher Weg ist für uns der richtige? Die Erkenntnis kommt meist erst unterwegs …
Die Frau neben mir lächelt mich an, wir kommen ins Gespräch. Sie ist genauso aufgeregt wie ich. Die Lehrerin kommt mit meinem Sohn zurück: “Es hat alles gut geklappt. Er hat toll gepuzzelt und kann auch schon gut mit Stift und Schere umgehen. Auch sprachlich konnte ich soweit keine Defizite feststellen.” Mit einem strahlenden Lächeln präsentiert der Knirps mir ein rotes Dreieck, ordentlich ausgemalt und ausgeschnitten. Ich bin ziemlich stolz und ein bisschen erleichtert.
Nach ein paar Wochen und vielen Gesprächen mit Freunden, anderen Eltern und Pädagogen habe ich mich dann entschlossen: Wir biegen jetzt ab in diesem Labyrinth, der Kleine ist bereit für einen neuen Streckenabschnitt. Ich versuche, das Ganze als eine Art Testfahrt zu sehen, ganz langsam, mit vielen Airbags, Knie- und Ellenbogenschützern und Helm. Falls wir gegen eine Wand donnern: auch nicht schlimm. Das ist dann einfach eine Chance, sich neu zu orientieren.
Über die Autorin
Redakteurin
© Kali Richter
Kali Richter studiert Journalistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Hamburg. Sie schreibt nicht nur gerne über sondern auch für Kinder. Das gebürtige Nordlicht hat in Hamburg seine Heimat gefunden, fühlt sich aber in der Welt zu Hause, ihr Rucksack war dabei lange ihr liebster Begleiter. Seit sie 2011 Mutter eines Sohnes wurde, darf es aber auch mal Pauschalurlaub sein.
Kolumne von Eltern für Eltern
Im Wechsel schreiben Blogger und Journalisten über Themen, die Eltern bewegen. Lesen Sie hier Geschichten und Beispiele aus der wunderbar chaotischen Welt des Lernens und Lebens. Alle Kolumnen ansehen.
Inhalt dieses Artikels: anzeigen
Viele Menschen kämpfen im Frühling mit Heuschnupfen oder anderen Allergien. Bei meiner Tochter ist es die Wahrnehmung, die verrücktspielt – aber nicht nur im Frühling. Meine Tochter ist ein hochsensibles Kind – und damit ist sie nicht alleine. Laut Aron und Aron sind 15-20 Prozent der Bevölkerung hochsensibel. Hochsensible verarbeiten mehr von dem, was sie wahrnehmen. Denn anders als bei normalsensiblen Menschen gelangen mehr Reize ins Gehirn. Werden dann zu viele Reize wahrgenommen, führt dies zu einer Überbeanspruchung und in weiterer Folge zu Stress. (Hier finden Sie mehr zum Thema: Hochsensibilität – Was ist das überhaupt?)
Stressfaktor Hochsensibilität: Die Last der Superkräfte
Stresssituationen können ganz unterschiedlich sein: Meine Tochter hält z.B. das Zwitschern von Vögeln nur schlecht aus oder wird durch eine laute Umgebung mit vielen Stimmen, die durcheinandersprechen, überfordert. Aber auch wenn ein T-Shirt kratzt, wenn sie an Gruppenaktivitäten teilnehmen muss oder wenn sie in einer fremden Umgebung ist. Die Ausprägungen bei Hochsensibilität sind von Mensch zu Mensch verschieden und werden von persönlichen und sozialen Faktoren beeinflusst. Es gibt nicht DIE Hochsensibilität.
Hochsensible Kinder fallen nicht erst in der Schule auf, sondern schon im Kindergarten. Meine Tochter brauchte jeden Nachmittag nach dem Kindergarten eine Verschnaufpause, weil die Unruhe, der Lärm und die Eindrücke sie überforderten. Sie war erschöpft, blass und introvertiert. Und das nicht nur während der Eingewöhnung, sondern auch noch Monate später. Hochsensible Kinder nehmen jedes Geräusch, jeden Laut intensiver wahr.
Hochsensible Kinder in der Schule
So ist es auch in der Schule: Oft wird sie wegen ihrer Andersartigkeit gehänselt, als Heulsuse bezeichnet und ausgelacht. Es kränkt sie, das weiß ich. Gerne zieht sie sich dann in ihr Schneckenhaus zurück, wird aber gleichzeitig impulsiver als sonst, unruhiger und kleinste Abweichungen vom Gewohnten führen zu Chaos und Wutausbrüchen. Zu Beginn kamen die Lehrer gar nicht auf die Idee, dass sie hochsensibel sein könnte – was auch daran liegt, dass ihr Verhalten schnell als “sozial noch nicht reif für die Schule” bis hin zu AD(H)S eingestuft wurde. Erst viele Gespräche und Aufklärungsarbeit führten dazu, dass meine Tochter ihren Platz in der Schule gefunden hat.
Die Lehrer haben nun ihr großes Potential entdeckt und arbeiten ihre Stärke und ihre besondere Gabe heraus: Es wird immer hervorgehoben, wenn sie Kleinigkeiten und (zwischenmenschliche) Feinheiten wahrnimmt, die anderen entgangen sind. Oder wenn sie um Gerechtigkeit bemüht ist und sich für andere einsetzt. Ihre Vorsicht und Sorgfalt wird genauso geschätzt.
Meine Tipps: Was Hochsensiblen in der Schule hilft
Die Lehrer haben erkannt, dass sich meine Tochter in einem System befindet, das für ihre besonders intensive Art der Reizverarbeitung nicht gemacht ist und sie versuchen, ihr einen Raum zu geben, in dem sie sich entfalten kann. Sie darf so lernen, sich selbst mit ihrer Gabe anzunehmen und hat nicht das Gefühl, sich der Mehrheit anpassen zu müssen.
Was ihr in der Schule besonders hilft:
- Empathische und feinfühlige Lehrer, die auf sie eingehen und sie annehmen
- Im letzten Jahr entstand eine enge Bindung zu den Lehrern und sie hat sie als Bezugspersonen akzeptiert. Sie mag sie gerne. Und das ist bei ihr schon die halbe Miete.
- Reizreduzierung und Entschleunigung
- Eigenes Lerntempo, Wochenplanarbeit
- Reizreduzierte Lernumgebung
- Möglichkeit, mit Kopfhörern zu arbeiten, um sich gegen Lärm abzuschirmen
- Wenn sie an einer Gruppenaktivität nicht mitmachen möchte, dann muss sie nicht und darf alleine arbeiten.
- Individuelle Pausen und Ausgleich schaffen
- Sie darf einfach den Raum verlassen und sich ein paar Minuten für sich nehmen, wenn es ihr zu viel wird.
- Viel Bewegung
- Viel Zeit für Kreativität
- Auf unangenehme Situationen vorbereiten/Alternativen anbieten
- An schwierige Situationen wird sie langsam herangeführt: Statt beim Referat vor der Klasse zu stehen, durfte sie im Morgenkreis reden.
- Statt an einem Ausflug teilzunehmen, darf sie auch den Tag in der Nebenklasse verbringen.
- Für die Klassenfahrt wurde mit ihr extra ein Gesprächstermin mit meiner Anwesenheit vereinbart und sie hat schon ganz genau erfahren, wie es dort aussieht, welche Aktivitäten geplant sind, was sie erwartet. So vorbereitet fuhr sie dann auch mit, während die anderen Kinder überrascht wurden.
- Stärken unterstützen
- Sie darf viel malen und zeichnen (und bekommt dafür Anerkennung).
- In der Klasse wurde ihr die Rolle der Mentorin zugeteilt und sie unterstützt beim Streitschlichten.
Tipps für den Alltag mit einem hochsensiblen Kind
Es sind aber nicht nur die Lehrer, die hochsensiblen Kinder helfen können, den Schulalltag zu meistern. Eltern können mit einem klar strukturierten Alltag und viel Raum für Erholung für mehr Ausgeglichenheit sorgen.
Meine Tipps für den Alltag mit einem hochsensiblen Kind:
- Ein langsamer und strukturierter Lebensrhythmus hat sich bei uns bewährt.
- Das Kind sollte morgens ausgeschlafen sein und ausgewogen frühstücken. ► 10 Tipps: Stress am Morgen vermeiden
- Ruhige Farben: Sowohl an den Wänden, bei den Vorhängen, der Bettwäsche und der Kleidung
- Rituale wie Phantasiereisen, Jahreszeitentische, kleine Gebete etc. tun gut und geben Struktur.
- Eine ruhige und strukturierte (Lern-) Umgebung, die Platz für Kreativität und Detailgenauigkeit lässt – sowohl in der Schule, als auch zu Hause
- Freizeitstress am Nachmittag vermeiden
- Nachmittags braucht das Kind genügend Zeit, um sich von der Schule zu erholen.
- Vereinbaren Sie mit Ihrem Kind, dass es z.B. an zwei Nachmittagen in der Woche Freunde treffen kann – die anderen Nachmittage gehören der Familie!
- Medienkonsum des Kindes reduzieren
- Ausgleich schaffen
- Finden Sie etwas, das Ihrem Kind Spaß macht und bei dem es glänzen kann – sein Alltag ist meist ohnehin von Kritik geprägt.
- Malen: Früher besuchten wir eine Kreativwerkstatt, heute malt meine Tochter zu Hause. In ihren Bildern verarbeitet sie ihren Alltag, ihre Erlebnisse und kann ihre Kreativität ausleben.
- Überreizung mit viel Bewegung in der Natur ausgleichen: „Ab in den Wald“ heißt es zum Beispiel bei uns mindestens einmal pro Woche und am Wochenende – im Wald kann sich mein Kind am besten erholen und Reize verarbeiten
- Mein Kind schaukelt für sein Leben gerne – durchs Schaukeln kommt meine Tochter ins Gleichgewicht.
- Ab ins Bällchenbad! Bei uns ist es eine Tonne mit Kirschkernen, in die sich meine Tochter gerne zurückzieht und es dann genießt, sich intensiv zu spüren.
Meine Tochter, die mit diesem ganz besonderen Wesenszug angenommen und unterstützt wird, bekommt die Chance, ihr ganzes Potential zu entfalten: Kreativität, Empathie, Humor, Gerechtigkeitssinn – das alles steckt in ihr und mit der Hilfe von uns als Eltern und den Lehrern wird es ihr gelingen, ihren ganz eigenen Weg zu finden.
Entspannt mit scoyo Lernlücken schließen:
Über Sylvia Sima
Sylvia Sima ist Mutter von drei (fast erwachsenen) Kindern, Karrierefrau, Anpackerin und Betreiberin der Seite welovefamily.at. Sie lebt in Österreich und liebt das Reisen.