Eltern wollen Ganztagsschule – aber am liebsten nur halbtags
Katharina Looks
Christian Füller hat wieder geflüstert: Dieses Mal geht es um die Entwicklungsgeschichte der Erziehung und warum Eltern immer alles auf einmal wollen. So wie die Ganztagsschule, aber lieber nur halbtags.
Neulich an der Schule eines Freundes. Er jammert gern. Über die Lehrer, über die Bücher, über die Toiletten. Eigentlich über alles, was mit der Schule seines Sohnes zu tun hat. Aber jetzt machte die Schulleiterin ihm und den anderen Eltern ein betörendes Angebot: Das Gymnasium will Ganztagsschule werden. Bis 16:30 Uhr könnten die Kinder künftig an der Schule bleiben. Nicht nur Unterricht, auch Hausaufgaben würden angeboten. Und viele schöne AGs.
Kann man nicht abschlagen. Dachte mein Freund.
Aber er hatte sich getäuscht.
Eltern wollen alles auf einmal
Mutter eins will wissen, ob das denn jeden Tag sein müsse. Mutter zwei fragt, ob es nicht auch länger gehen könnte. So bis 19 Uhr. Und ein Vater schlägt ein elektronisches An- und Abmeldesystem vor. Dann könnten sich die Kinder total unkompliziert bis 11 Uhr aus dem Ganztag ausloggen.
Die Rektorin lächelte. Eisig. Sie kämpft in ihrem Kollegium seit fünf Jahren darum, dass Ganztagsschule möglich wird. Jetzt, da sie ihre Lehrer endlich so weit hat, können sich die Eltern nicht entscheiden.
Eltern wollen alles auf einmal: Ganztagsschule – aber am besten nur halbtags. Mitreden – aber in Ruhe gelassen werden. Sanfte Erziehung – aber knallharte Abi-Noten.
Sind das jetzt die Helikoptereltern, die mit dem Kontrollzwang? Oder die Hedonisten, die ihr Kind so lange wie möglich los haben wollen? Oder die Zögerer und Zauderer?
Erziehung – von der Nazizeit bis in die 68er
Nein, die Krise mit dem Ganztag, sie gehört zur jüngeren Geschichte der Eltern wie der Schnuller zur Erziehung. Ob Erziehung privat oder politisch sein soll, ist die bohrende Frage deutscher Eltern. Ursprünglich galt hierzulande das Prinzip der Heiligen Familie. Papa verdient das Geld, Mama kümmert sich um den Nachwuchs. Tut sie es nicht, ist sie eine Rabenmutter.
Das galt, bis die Nazis kamen. Sie verstaatlichten die Erziehung. Familie war jetzt nicht mehr privat, sondern eine Art Nachschublager für die Wehrmacht. „Jedes Kind ist eine Schlacht“, hieß damals ein geflügeltes Wort. Johanna Haarer veröffentlichte „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, ein Buch, das sich mit dem NS-Regime gemein machte. “Werde hart!”, schrieb sie 1938. “Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen.”
Dann kam der Krieg, dann kam die Befreiung, dann kam die Adenauer-Zeit.
Aber die “Werde-hart”-Sätze blieben.
Johanna Haarer gab ihren Ratgeber in der jungen Bundesrepublik einfach weiter heraus. In Millionenauflage. Bis in die 1960er Jahre.
Dann kamen die 68er. Und warfen alles um.
Aus “Dein Kind ist dein Feind!” wurde: “Das Kind ist dein Freund!” Die Hart-wie-Krupp-Stahl-Erziehung wurde durch die tastende Art von Eltern ersetzt, die nicht mehr wussten, was richtig und falsch war. Kein Wunder: Adorno fragte, “gibt es eine Erziehung nach Auschwitz?” Und die Eltern dachten heimlich: Eigentlich nicht!
Die Eltern hat das total überfordert. “Ich weiß nicht, wann ich mein Kind in den Arm nehmen darf”, sagt die verwirrte Mutter eines Kinderladens. Die 68er drehten alles auf den Kopf – aber sie kamen bei einem Ergebnis heraus, das dem der Nazis blöderweise ähnelte.
Schon wieder gehörte das Kind nicht den Eltern. Nur dass diesmal keine braunen Volksgenossen erzogen werden sollten, sondern rote. “Ziel ist die Schaffung des neuen Menschen in einer revolutionierten Gesellschaft” – so lautete der O-Ton aus der Kommune 2, dem Labor der neuen Erziehung durch sexuelle Befreiung.
Die Nazis haben Kinder(erziehung) verstaatlicht, die 68er haben sie politisiert. Kein Wunder also, dass uns Ganztagsschule auch heute noch weh tut. Wir lernen gerade erst um.
Eine Kolumne von scoyo-Elternflüsterer Christian Füller
Der Autor
Christian Füller ist Journalist (u.a. FAS, Spiegel Online und Freitag) und Autor diverser Bücher über gute Schule und neues Lernen. Er hat sich dabei auch mit Eltern auseinandergesetzt. In „Ausweg Privatschulen“ (2010) gibt er Hinweise, welche private Schule sich lohnen könnte. In „Die Gute Schule“ (2009) analysiert er, warum Eltern so wahnsinnig wichtig fürs Lernen sind. Füller hat mit Jesper Juul über Eltern gestritten, die ihre Kinder immerzu nach ihrem Befinden befragen. Er hat bei Spiegel Online als ihr wichtigstes Prinzip „my kind first“ ausgemacht. Füller hat selbst zwei Kinder und hassliebt es immer noch, Elternvertreter zu sein.
Twitter: @ciffi | twitter.com/ciffi
Die Kolumne “Die Elternflüsterer”
Im Wechsel flüstern der Journalist Christian Füller und Bildungsunternehmerin Béa Beste den Eltern Geschichten und Beispiele aus der wunderbar chaotischen Welt des Lernens und Lebens ins Ohr.
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