Bildung 4.0: Warum man das Konzept der Schulnote überdenken sollte
Katharina Looks
Wie zukunftstauglich sind Noten?
Wie aussagekräftig sind Zensuren wirklich? Und welche psychologischen Konsequenzen folgen dieser Art von Bewertung? scoyo-CEO Daniel Bialecki hinterfragt in seiner Kolumne die Daseinsberechtigung von Schulnoten.
Der Schulnote fehlt es an Aussagekraft
Noten sind ein Versuch, die Leistungen von Schülern zu objektivieren und messbar zu machen. Dies ist problematisch, weil dieser Vorgang undifferenziert und ohne Kontext stattfindet. Noten können immer nur die Leistung eines Schülers zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt abbilden. Wenn ein Kind eine Mathearbeit total verhaut, ihm der Stoff danach aber nochmal erklärt wird und das Kind ihn dann gelernt hat und beherrscht, bleibt die schlechte Zensur trotzdem stehen – sie kann höchstens durch die nächste benotete Abfrage relativiert werden. Dadurch sind Noten Momentaufnahmen, die nur bedingt das faktische Leistungsvermögen widerspiegeln und einen wichtigen Bestandteil im Lernprozess nicht honorieren: die individuelle Entwicklung eines Schülers. Dazu kommt erschwerend hinzu, dass einem Kind, das zwei Mal hintereinander ein „ausreichend“ erhält, also die Note 4, vermittelt wird, es hätte nichts dazugelernt. Das ist nicht nur totaler Quatsch, sondern wirklich fatal. Denn, wenn Schüler den Eindruck bekommen, nichts dazuzulernen, wenn sie wiederholt vermeintlich schlechte Noten bekommen, dann wird der angeborene Drang dazulernen zu wollen im Keim erstickt. Dabei ist gerade das eine der wichtigsten Fähigkeiten, immer schon – und besonders jetzt, im digitalen Zeitalter.
Und was sagt eine Note überhaupt aus? Bedeutet eine schlechte Zensur in Deutsch beispielsweise, dass ein Kind generell Deutsch nicht kann, oder ist es so, dass es vielleicht Teile des vorgesehenen Lehrstoffs nicht konnte, andere aber ganz gut? Vielleicht total kreative Texte schreiben kann, es aber an der Grammatik oder Rechtschreibung hapert? Natürlich muss es ein bestimmtes Bildungsniveau ohne Ausnahmen geben, das jedes Kind erreichen soll. Um keine Bildungsverlierer zu produzieren, müssen Schulnoten das Erreichen aber exakt und eineindeutig feststellen können, denn sie dienen als zentraler Wegweiser für bestimmte Schul- und Abschlussformen, entscheiden als Selektionskriterium für die Wirtschaft (vermeintlich) über Zukunftschancen. Aber auch dort machen sich längst Zweifel breit: aufgrund der fehlenden Aussagekraft von Noten über die tatsächliche Qualifizierung eines Bewerbers, spielen Noten für immer mehr Unternehmen, wie die Deutsche Bahn, Google oder Microsoft keine oder nur noch eine untergeordnete Rolle im Recruitingprozess. Da müssen wir uns einmal mehr fragen, wozu genau wir Noten brauchen.
Unser Umgang mit Schulnoten ist ein zentrales Problem
Neben der fehlenden Aussagekraft von Schulnoten selbst, ist auch der Umgang mit ihnen extrem problematisch: Schlechte Noten sind für Schüler ein destruktives Feedback, da aus ihnen in der Schule keine konstruktive Konsequenz gezogen wird. Denn es gibt selten eine konkrete Handlungsempfehlung, die aus der Leistungsüberprüfung gezogen wird. Fragen wie „Was genau kann das Kind nicht – was muss jetzt wie gelernt und geübt werden?“ bleiben unbeantwortet, weil unseren Lehrern die Ressourcen fehlen, um Raum für eine institutionell geleitete, individuelle Förderung zu schaffen. Schüler und Eltern werden vom Bildungssystem also völlig alleine gelassen – und Nachhilfe boomt, weil sich Eltern nicht anders zu helfen wissen. Denn die Denkweise, dass eine schlechte Note zu einer schlechten Zukunftsperspektive führt, hält sich hartnäckig. Das führt zwangsläufig zu Ratlosigkeit, Druck und Stress, selten zu konstruktiven Verbesserungen. Das können wir nicht wollen.
Wir dürfen also den psychologischen Effekt von Schulnoten nicht unterschätzen: Die meisten Kinder haben schlicht Angst vor schlechten Noten. Weil wir reflexhaft mit der Zukunftskeule winken, unsere Kinder aber nicht konkret wissen, wie sie ihre Note verbessern können. Der daraus resultierende Stress blockiert Ressourcen und damit kognitives Leistungsvermögen. Ein Teufelskreis. Als weitere Konsequenz verlieren Kinder ihre offene Haltung gegenüber dem Lernen. Lernen wird nicht mit dem Er-lernen einer Sache gleichgesetzt – wie es beim Fahrradfahren oder Schwimmen der Fall ist – sondern mit einer abschließenden Beurteilung und Bewertung. Wenn Lernen aber schon in der Schule negativ belegt und mit der Angst vor dem „Scheitern“ (= schlechte Zensur) gleichgesetzt wird, hat das langfristige Auswirkungen. Es führt in vielen Fällen zur Schlussfolgerung: Lernen ist doof. Und verhindert damit die heute vielfach verlangte positive Einstellung gegenüber dem „lebenslangen Lernen“.
Noten als Prozessbegleiter begreifen, weniger als Ziel
Und dennoch: Noten sind nicht per se ein schlechtes Konstrukt. Mit Schulen ohne eindeutige Leistungsbeurteilungen befänden wir uns in einem Elfenbeinturm inmitten einer Leistungsgesellschaft. Damit Noten aber das leisten können, was wir in diesem Zusammenhang von ihnen erwarten – nämlich aussagekräftige Qualifizierungskriterien zu liefern –müssen wir radikal etwas ändern. Lehrern muss die Zeit eingeräumt werden, Schüler individuell zu betreuen und ihnen aufzuzeigen, welche Konsequenzen sie aus einer Note ziehen sollen und wie sie ihre Leistungen verbessern können. Nur so wird Lernen zum Prozess, dessen einzelne Prozessschritte nicht mit einer singulären Bewertung ad acta gelegt werden. Schüler dürfen eben nicht mit ihren Noten alleine gelassen werden. Noten müssen einen fortlaufenden Entwicklungsprozess honorieren, um einen positiven Lernprozess zu fördern. Wir sollten sie als Indikator verstehen, weniger als Ziel. Dann geben Noten eine Orientierung für Schüler, Lehrer, Eltern und andere Institutionen. Und können auch ein Motivationselement sein.
Das Konzept von Schulnoten ist in heutigem Zustand nicht zukunftsträchtig
Für mich steht fest: Das generelle Konzept von Schulnoten, ihre Bedeutung und insbesondere die Aussagen und Handlungen, die aus ihnen abgeleitet werden, müssen grundlegend überdacht werden. Lehrer müssen mehr Zeit bekommen, sich individuell mit ihren Schülern zu befassen und ihnen aufzuzeigen, wie sie mit einer Note umgehen und was genau sie tun können, um sich weiter zu entwickeln. Wir sollten auf die individuellen Fähigkeiten von Kindern eingehen und diese gezielt entwickeln.
Das kann die Schulnote in ihrer jetzigen Form nicht bieten, weil sie dafür nicht graduell, nicht feinfühlig genug und vor allem viel zu weit vom Kind entfernt ist, als dass sie konstruktiv Kritik üben könnte und echte Entwicklung fördert. Dafür wurde die Note einfach nicht geschaffen. Wenn wir aber wollen, dass Kinder die Lust an Schule nicht verlieren und sich offen entwickeln, dann müssen wir das heutige Konzept der Schulnote ändern.
Über den Autor
Daniel Bialecki ist seit 20 Jahren im Bereich der digitalen Wissensvermittlung tätig und beschäftigt sich seitdem damit, wie richtig gute Bildung im digitalen Zeitalter aussehen kann. Seit über 10 Jahren konzentriert sich der Dreifach-Vater speziell auf erfolgreiche Lernprozesse von Kindern im Zusammenspiel mit deren Eltern und Lehrern. Gemeinsam mit Pädagogen und renommierten Geschichtenentwicklern baute er von 2007 bis 2009 die virtuelle Lernumgebung von scoyo mit auf. Seit 2014 ist er scoyo-Geschäftsführer.
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