scoyo im Gespräch mit Stephanie Schiemann: Problemfach Mathematik – warum eigentlich?
Katharina Looks
Mathematik zählt, weil man sie in fast allen Lebensbereichen braucht.
Viele Kinder haben Schwierigkeiten in Mathe, häufig wird es zum “Problemfach”. Doch warum ist das eigentlich so und was können Eltern tun?
Stephanie Schiemann leitet das Netzwerkbüro Schule-Hochschule der Deutschen Mathematiker-Vereinigung und engagiert sich ehrenamtlich in der Mathe-Talentförderung. Wir haben sie zum Thema Problemfach Mathematik befragt.
scoyo: Der Stiftung Rechnen zur Folge schlossen 20% der Kinder das Schuljahr 07/ 08 mit ausreichend oder schlechter ab. Nach der PISA-Studie 2009 jedoch liegt Deutschland im Fach Mathematik deutlich über dem OECD-Durchschnitt. Wie ist es denn nun wirklich um die mathematischen Fähigkeiten deutscher Schüler bestellt?
Schiemann: Die mathematischen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler sind sehr unterschiedlich – abhängig von der Schulform und dem Einzugsgebiet einer Schule, aber auch von der Ausbildung und Motivation der dort unterrichtenden Lehrkräfte. Auch wenn es sehr gute Gegenbeispiele gibt, kann man allgemein feststellen, dass in Klassen, die über mehrere Jahre fachfremd unterrichtet werden, das Niveau sinkt. Mit der Einführung des G8 (Gymnasium in acht Jahren, von der Kl.5 bis 12) und der damit verbundenen Reduzierung der Lernzeit für die gymnasialen Kinder, sowie der Abschaffung der Leistungskurse und die Reduzierung der Mathestunden in der Oberstufe in einigen Bundesländern, wird das Niveau in den folgenden Jahren noch weiter sinken. Dazu gibt es bereits Berichte aus Ländern, die die Doppelabiturjahrgänge schon hinter sich haben.
Es gibt aber auch sehr leistungsstarke Schüler in Deutschland, die ihr Können jährlich bei nationalen und internationalen Wettbewerben bestätigen. Diese profitieren häufig von der Form des Spezialgymnasiums, speziellen schulübergreifenden Begabtenförderprojekten, die von Vereinen oder Universitäten getragen werden, oder dem intensiven persönlichen Engagement einzelner Lehrkräfte.
Grundsätzlich zählt das Schulfach Mathematik in Deutschland allerdings zu den Top-3-Fächern, die für eine Nicht-Versetzung bzw. einen Schulwechsel auf einen niedrigeren Schultyp verantwortlich sind. Die weit verbreiteten schwachen Mathematikleistungen führen dazu, dass Mathematik das Schulfach ist, in dem am meisten außerschulische Unterstützung nachgefragt wird. Viele Eltern können ihren Kindern fachlich in Mathematik schon ab der 5. Klasse nicht mehr helfen, sodass Nachhilfe angeraten und sehr oft auch genommen wird. Leider können sich dies nicht alle Eltern leisten. Kostenlose Unterstützungssysteme sind leider nur für etwa ein Drittel der Schüler/-innen verfügbar.
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scoyo: Warum bereitet Mathematik vielen Kindern große Schwierigkeiten in der Schule?
Schiemann: Das liegt unter anderem an den Lerninhalten in den Rahmenplänen. Es wird zum Teil nicht berücksichtigt, dass für bestimmte Themen das notwendige Abstraktionsvermögen in der entsprechenden Altersstufe noch nicht ausgebildet ist. In diesen Momenten formt sich das Gefühl, Mathe ist zu schwer! Zudem ist der Mathematikstoff hierarchisch aufgebaut, d.h. er ist so beschaffen, dass Lücken in den ersten Schuljahren dazu führen, dass man die Inhalte der nachfolgenden Jahre nicht mehr richtig einordnen und begreifen kann. Sowohl im Verständnis der Objekte, als auch im Beherrschen der Rechenmethoden, quasi der Werkzeuge der Mathematik, treten dann Lücken auf, die sich fortlaufend vergrößern. In diesem Punkt sind meines Erachtens Übungsprogramme mit eingebauter Fortschrittsanalyse und Diagnosetools, wie sie z.B. bereits online bei scoyo oder bettermarks oder auch bei den Schulbuchverlagen verfügbar sind, durchaus sinnvoll. Mithilfe der Programme können gezielt Lücken geschlossen werden und im Regelunterricht Platz für die aktuellen weiterführenden Inhalte, logisches Denken und Problemorientierung machen.
Das Gefühl, das Mathe zu schwer für normale Schüler ist, wird in besonderer Weise von der erwachsenen Gesellschaft bestätigt, denn es ist immer noch en vogue, dass sich Vorbilder in der Öffentlichkeit, aber auch im Privaten damit brüsten, Mathematik nie gekonnt zu haben und trotzdem gut durchs Leben zu kommen. Auch werden Anstrengungen in Ausdauer und Konzentration oder auch das Auswendiglernen, z.B. von Quadratzahlen, allgemein nicht mehr als notwendig und positiv erachtet, sondern allzu häufig als überflüssig oder Überforderung abgetan. Ohne diese Anstrengungsbereitschaft kann Mathematik aber – auch in der Schule – nicht betrieben werden.
Jedem ist klar, dass ohne Sprache eine Gesellschaft nicht funktioniert, jedoch würde ohne die Mathematik kein Auto fahren, kein Handy funktionieren und kein Haus stehen. Die fundamentale Bedeutung der Mathematik muss wesentlich stärker in den Vordergrund gestellt werden. Hierzu muss im Mathematikunterricht deutlicher werden, wo sich im Alltag überall Mathematik befindet. Dies würde den Schülern helfen, die Notwendigkeit zu erkennen Mathematik zu lernen. Um die Anwendungsbezüge der Mathematik im Alltag deutlicher zu machen sollten aktuelle Themen aufgegriffen werden, z.B. beim Thema Gesundheit „Wie groß ist das Atomkraftrisiko oder die Wahrscheinlichkeit an EHEC zu erkranken?“ „Wie verbreitet sich eine ansteckende Krankheit?“ oder im Schulalltag „Wie viel Geld müssen wir einnehmen, damit wir beim Schulfasching kein Minus machen?“, „Wie kalkuliert man eine Klassenfahrt?“ oder „Wie gestalte ich ein gerechtes Wahlverfahren für den Schulsprecher?“ oder „Wie stelle ich ein Wahlergebnis vernünftig dar?“ usw.
scoyo: Was macht die Schule bei der Vermittlung von Mathematik aus Ihrer Sicht falsch?
Schiemann: Die Stofffülle und Zeitknappheit lässt den Lehrern wenig Spielraum. Die standardisierten Tests schränken den Unterricht zusätzlich inhaltlich weiter ein. Der 45-Minuten-Takt ermöglicht kein längeres, konzentriertes und intensives Arbeiten an einem Thema (z.B. bei einem Projekt oder einem komplexerem Problem) und erschwert somit entdeckendes Lernen. Selbst etwas zu entdecken und zu begreifen ist jedoch unheimlich wichtig für das Verständnis. Außerdem macht dies besonders viel Spaß und ermöglicht den Schülerinnen und Schülern somit positive Emotionen mit der Mathematik aufzubauen. Reine Reproduktion, also Vormachen-Nachmachen von irgendwelchen Rechenverfahren, stärkt das Verständnis der Sache kaum und hilft nur beim Lösen der einfachsten Aufgaben in der Klassenarbeit (keine-5-Strategie).
Lehrerinnen und Lehrer arbeiten vielfach „nur“ mit dem eingeführten Lehrbuch und nehmen sich keine Zeit für eine individuelle aktuelle Unterrichtsvorbereitung. Dies liegt vielfach am vollgestopften Wochenplan. Weiterhin gibt es nur eingeschränkt Fortbildungsangebote für Lehrer und diese werden außerhalb aber auch während der Unterrichtszeit zu wenig genutzt. Zudem werden Lehrkräfte bei Fortbildungen während der Unterrichtszeit nur bedingt freigestellt. Es ist ein Versäumnis der Bildungspolitik/Schulverwaltung, dass keine ausreichende Lehrerversorgung eingeplant wird, um Fortbildungen, Krankheitsvertretung und das sehr fruchtbare Team-Teaching oder Hospitationen sowie die qualifizierte Nachmittagsbetreuung zu ermöglichen. In Klassen mit über 30 Schülern ist eine individuelle Betreuung praktisch nicht möglich.
Auch muss das Angebot für Unterstützung, vor allem nachmittags speziell für Benachteiligte weiter ausgebaut werden. Vielen Eltern fehlt die Zeit, der Wille oder das fachliche Verständnis um ihren Kindern zu helfen. Mit dem Ausbau der Ganztagsschulen und dem Bildungspaket sind zumindest Schritte in die richtige Richtung erkennbar.
scoyo: Wie kann man als Elternteil sein Kind motivieren und Spaß an Mathe vermitteln?
Wenn man selbst nicht in der Lage ist, sein Kind mathematisch zu fordern und zu fördern, kann man nach geeigneten Personen im Umfeld (Großeltern, Geschwister, Nachbarn etc.) oder Institutionen suchen, die das leisten können. Empfehlenswert ist auch der Besuch einer mathematischen Ausstellung (die Suche „Matheausstellung“ bei Google liefert mehr als 1.300 Ergebnisse) bis hin zu mathematischen Schul-AGs, Wettbewerben (z.B. www.mathe-kaenguru.de oder www.mathekalender.de) oder Talentförderungen.
Außerdem gibt es sehr viele schöne Mathematik-Lehr- und -Lernfilme im Schulfernsehen, z.B. beim SWR-WDR, die man über www.planet-schule.de findet. Sie vertreiben schöne und interessante Filme mit mathematischen Hintergründen, Themen und Biographien.
Nicht zuletzt kann man die vielen Berechnungen, die man im Alltag anstellt, von klein auf mit den Kindern zusammen machen. Im Supermarkt: Welche Packung ist günstiger? Ist der Rabatt wirklich ein lohnednes Angebot? Beim Schulweg: Welcher Schulweg ist der kürzeste? Wie lange brauche ich? Im Auto: Wie weit komme ich noch mit der Tankfüllung oder welcher Weg ist wohl der beste, schnellste, kürzeste? Bei Verträgen: Welcher Handyvertrag ist für mich der Günstigste? Beim Wohnung renovieren: Wie viel Tapete, Kleister, Farbe, Pakete Laminat, Parkett, Fliesen oder Teppich brauche ich, um nicht zu viel oder zweimal einkaufen zu müssen? Wie kann ich die Streckenlänge oder die Winkel bestimmen, die ich hinter der Heizung nicht messen kann? Kann ich den Schrank dorthin stellen oder ist er zu hoch? Spiegelungen, Projektionen, Abbildungen, … – die Mathematik ist überall. Man muss sie nur sehen.
Am wichtigsten ist, das Denken und Fragen, Weiterdenken und Weiterfragen nicht abzuwürgen und die Anstrengung zu fördern, auch wenn das für einen selbst Energie kostet.
Stephanie Schiemann
Gymnasiallehrerin Stephanie Schiemann Stephanie Schiemann war 16 Jahre Gymnasiallehrerin in Niedersachen, war Schulbuchautorin beim Westermann-Schulbuchverlag von MatheNetz und leitet jetzt das Netzwerkbüro Schule-Hochschule der Deutschen Mathematiker Vereinigung an der FU Berlin.
Über 25 Jahre galt Ihr Engagement mathematisch hochbegabten Schülerinnen und Schülern. Im Frühjahr 2008 erschien ihr 300-seitiger Tagungsband über die Jubiläumstagung “25 Jahre Talentförderung Mathematik” im LIT-Verlag.
Das Deutsche Zentrum für Lehrerbildung Mathematik (DZLM) liegt Frau Schiemann besonders am Herzen. Dort wird ein umfangreiches, deutschlandweites Fortbildungsangebot aufgebaut. Zudem werden Multiplikatorenausbildungen angeboten, um eine noch größere Breitenwirkung zu erreichen. Beteiligt sind überwiegend Hochschulen in NRW und Berlin. Alle Infos dazu finden Sie im umfangreichen Webportal.
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